Dann stieg sie aus und bot einem amerikanischen Paar an, die beiden gemeinsam mit den chinesischen Soldaten zu fotografieren.
Der Major musterte sie einen Moment lang und scheuchte dann schnell seine Männer zurück in den Laster. Li schloß sich ihm an. »Es spielt keine Rolle«, flüsterte er. »Wir haben bereits gewonnen.« Er winkte den Amerikanern mit gekünsteltem Grinsen zu, kletterte mit dem Major in das Führerhaus des Lastwagens und fuhr in hohem Tempo davon. Dann stiegen auch die Touristen wieder ein, und der Bus verschwand so abrupt wie er aufgetaucht war.
Tan ließ sich vor Gendun auf dem Boden nieder. Das Mantra hörte schlagartig auf. Trinle kam hinzu und ging neben Gendun in die Hocke.
»Erzähl mir von dieser Frau«, sagte Tan.
»Sie schien sehr glücklich zu sein. Dann... es gibt nichts Schrecklicheres als den Schrei eines Menschen, der unvorbereitet vom Tod ereilt wird. Danach waren nur noch andere Stimmen zu hören, nicht mehr die der Frau. Das ist alles.«
»Sonst nichts?«
»Nicht bis zu dem zweiten Auto. Es kam eine Stunde später. Zwei Türen schlugen zu. Dann waren Rufe zu hören; ein Mann rief nach jemandem.«
»Hat er einen Namen benutzt?«
»Der Mann unten rief, >Sind Sie da?< Er sagte, er wisse, woher die Blume stamme. Er fragte, >Was soll das heißen, ich brauche das Röntgengerät nicht?< Der Mann oben sagte, >Verehrter Genosse, ich weiß, wo Sie nachsehen sollten. < Der Mann unten sagte, er würde sich im Austausch für weitere Beweise auf einen Handel einlassen.«
Shan und der Oberst sahen sich an. Verehrter Genosse.
»Dann ist er den Abhang hinaufgestiegen. Die Stimmen wurden leiser, je weiter die beiden sich entfernten, und verstummten schließlich ganz. Dann gab es ein anderes Geräusch. Keinen Ruf. Ein lautes Stöhnen. Zehn oder fünfzehn Minuten später gingen die Scheinwerfer des Wagens an. Ich habe ihn gesehen. Er war ungefähr dreißig Meter von dem Auto entfernt. Der Mann in dem Wagen stieg aus und rannte die Straße hinunter.«
»Sie sagen, Sie haben ihn im Licht gesehen?«
»Ja.«
»Haben Sie ihn erkannt?« fragte Shan.
»Natürlich. Ich hatte ihn ja schon früher während der Festtage gesehen.«
»Hatten Sie denn keine Angst?«
»Ich habe von einem Schutzdämon nichts zu befürchten.«
Sie hielten den Kern von Genduns Aussage schriftlich fest. Dann setzte Tan zur Beglaubigung sein eigenes Siegel darunter. Er forderte Gendun nicht zum Bleiben auf, als die Mönche sich erhoben und im Heidekraut verschwanden.
»Am nächsten Morgen«, fragte Shan, als Gendun sich anschickte, seinen Kameraden zu folgen. »War da noch etwas Außergewö hnliches?«
»Ich bin gegangen, bevor die Bauarbeiter eintrafen, ganz wie man mir geraten hatte. Nur eines war ungewöhnlich.«
»Was denn?«
»Der Lärm. Ich war überrascht, wie früh sie anfingen. Noch vor Einbruch der Dämmerung. Das Geräusch schwerer Maschinen. Nicht hier. Weiter weg. Ich konnte es bloß hören, als wäre es von oben gekommen.«
Eine Stunde später bog eine kleine Kolonne ernster Männer auf das Gelände der Bor-Mine ein. Tan fuhr in seinem Wagen voraus, gefolgt von einem Laster voller Soldaten, die er über Funk herbeigerufen hatte. Shan und Sergeant Feng bildeten die Nachhut. Sie fuhren geradewegs zum Geräteschuppen, wo sie den schweren Traktor mit der Baggerschaufel und den Bulldozer der Mine besetzten. Die Maschinen bogen bereits auf den Wall ein, als die ersten Gestalten aus den Gebäuden auftauchten.
Rebecca Fowler rannte auf sie zu, blieb dann stehen, sobald sie Tan erkannte, und schickte Kincaid zurück, um die Kamera zu holen. Der Oberst bedeutete ihr, sie möge nicht näher kommen. Dann wies er die Soldaten an, den Zugang zum Damm abzusperren.
»Wie können Sie es wagen!« brüllte Fowler, sobald sie in Hörweite war. »Ich verständige Peking! Ich rufe in den Vereinigten Staaten an!«
»Wenn Sie sich einmischen, schließe ich die Mine«, sagte Tan ungerührt.
»Verfluchte BDKs!« schimpfte Kincaid und begann damit, Fotos von Tan zu schießen, dann von den Nummernschildern der Fahrzeuge, von den Maschinen und den Wachen. Als er Shan erblickte, hielt er inne. Er machte ein weiteres Foto, ließ dann die Kamera sinken und starrte Shan unsicher an.
Der Traktor grub sich an der breitesten Stelle in den Wall, wo der Abfluß zum Drachenschlund versperrt wurde. Shan erinnerte sich daran, genau an dieser Stelle auf den Satellitenfotos eine letzte Lücke und schweres Gerät gesehen zu haben, und das zu einem Zeitpunkt unmittelbar vor dem Mord. Es dauerte zwanzig Minuten, bis die Baggerschaufel auf Metall stieß, und weitere zwanzig Minuten, bis man mit Sicherheit erkennen konnte, daß es sich bei dem Wagen, den sie gefunden hatten, um eine rotbeflaggte Limousine handelte. Sie befestigten die Trosse des Bulldozers daran.
Die Ketten der Maschine drehten durch und rissen den Untergrund auf, bevor sie Halt fanden. Der Motor heulte auf, und einen Moment lang schien alles in der Bewegung zu verharren. Als das Auto sich langsam aus dem Lehm löste, gab es ein seltsames Geräusch, wie Shan es noch nie gehört hatte, ein reißendes, gespenstisches Ächzen, das ihm durch Mark und Bein drang.
Der Bulldozer hielt erst dann an, als er den Wagen fast bis zur Krone des Damms gezogen hatte.
Shan blickte hinein und sah einen Aktenkoffer.
»Aufmachen«, sagte Tan ungeduldig.
Die Tür ließ sich leicht öffnen, und aus dem Wagen schlug ihnen ein beinahe überwältigender Fäulnisgeruch entgegen. In dem Koffer fanden sich Jaos Flugtickets, eine dicke Akte und der Ausschnitt eines Satellitenfotos, der die Mohnfelder zeigte.
Die Kofferraumhaube klemmte. Tan nahm ein Stemmeisen vom Bulldozer und hebelte den Deckel auf. Im Innern lag die zusammengeschrumpfte Leiche einer jungen Frau in einem bunten Blumenkleid. Ihr Mund war zu einem schrecklichen Grinsen verzogen. Der Blick ihrer leblosen Augen schien sich direkt auf Shan zu richten. Auf ihrer Brust lag eine vertrocknete Blume. Eine rote Mohnblume.
Tan stöhnte entsetzt auf, wirbelte herum und schleuderte das Stemmeisen in den Teich. Dann drehte er sich wieder um. Sein Gesicht war aschfahl. »Genosse Shan«, sagte er, »das ist Miss Lihua.«
Rebecca Fowler stand wie gelähmt da und starrte schweigend und von Grauen gepackt in den Kofferraum, während Tan zu dem Funkgerät in seinem Wagen ging. Es kam Shan so vor, als würde sie vor seinen Augen vertrocknen, als könnte sie jeden Augenblick zu Staub zerfallen und vom Wind fortgetragen werden. Einen Moment lang glaubte er, sie würde ohnmächtig zusammenbrechen. Dann sah sie Tans starren Blick auf sich ruhen, und die Wut verlieh ihr neue Kraft. Lautstark erteilte sie eine Reihe von Anweisungen: Der Bulldozer sollte das Auto vom Damm ziehen, die anderen Maschinen mußten das klaffende Loch füllen, und sie benötigten Kipplaster mit Kies. Dann rannte sie auf das Loch zu und rief nach Kincaid.
Als Shan sie erreichte, kniete sie neben der Öffnung und war damit beschäftigt, Lehm in das Loch zu schieben, wobei sie abgehackte, hektische Stöhnlaute ausstieß. Immer mehr Wasser sickerte durch den geschwächten Wall. Der Traktor traf neben ihr ein und fing an, die Öffnung mit seiner Schaufel zu füllen. An der Seite des Loches wurde ein kleines Rinnsal sichtbar. Als der Traktor ein Stück vorfuhr, gab der Untergrund nach. Fowler schrie auf, sprang hoch und zerrte den Fahrer vom Sitz. Im selben Moment brach ein Teil des Damms ein, und die Maschine rutschte in die Öffnung. Die hintere Wand hielt ein paar Sekunden länger, bis das Loch sich mit Wasser gefüllt hatte. Dann brach auch sie. Der Traktor wurde in die Schlucht gespült, und der gesamte Teich strömte hinterher.
Hilflos sahen sie zu, wie das Wasser in den Drachenschlund stürzte, dabei Felsblöcke vom Hang losriß, die Böschungen einstürzen ließ und immer mehr Geschwindigkeit gewann, während es unter der alten Hängebrücke hindurch in einem Mahlstrom aus Felsen, Wasser und Geröll auf die Talebene zurauschte. Shan bemerkte, daß Tan neben ihm stand und mit einem Fernglas seine Brücke beobachtete.