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Doch auch ohne Fernglas sahen sie die Wasserwand gegen die Betonpfeiler schlagen. Die Brücke schien einen Moment lang wie ein zerbrechliches Spielzeug zu wanken, wurde dann hochgerissen und verschwand.

Shan erinnerte sich an das Geräusch, mit dem der Wall das Auto freigegeben hatte, das Zittern des Bodens, das reißende, saugende, quietschende Kreischen des Lehms, das ihn hatte erschaudern lassen.

Es bedurfte lediglich eines einzigen makellosen Tons, hatte Je gesagt.

Kincaid, der zunächst an der ausgegrabenen Limousine vorbeigerannt war, um Fowler zu Hilfe zu eilen, stand nun vor dem offenen Kofferraum. »O Gott«, stöhnte er mit heiserer Stimme. »O mein Gott.« Er beugte sich vor, als müsse er sie berühren, hielt dann inne und richtete sich langsam wieder auf. Dann drehte er sich um und schaute zu der Straße, die zu der Mine hinunterführte, als würde er einer plötzlichen Eingebung gehorchen. Shan folgte seinem Blick und sah, daß ein weiteres Fahrzeug sich näherte, ein leuchtendroter Land Rover.

Sogar aus zehn Metern Entfernung konnte Shan spüren, wie Kincaids Körper sich anspannte. »Ihr verfluchten Hunde!« schrie der Mann und lief auf die Straße zu, wobei er immer wieder anhielt, um Steine aufzuheben und in Richtung des noch weit entfernten Fahrzeugs zu schleudern. »Kommt her, und seht sie euch an, ihr Schweine!«

Der rote Wagen bremste ab, fuhr dann rückwärts die Steigung hoch und verschwand.

Auch Tan hatte den Vorfall bemerkt und sprach wieder in sein Funkgerät.

Luntok erschien und trug eine Decke zu der Limousine. Die ragyapas hatten niemals Angst vor den Toten. Ehrfürchtig deckte er die Frau im Kofferraum zu, wandte sich dann um und starrte seinen Freund Kincaid an. Sein Blick wirkte irgendwie verändert.

Rebecca Fowler ging einen Schritt auf den ragyapa- Ingenieur zu. »Welche Arbeitsgruppe war für die Abschlußarbeiten an diesem Damm verantwortlich?« fragte sie ihn mit angespannter Stimme. Luntok erwiderte nichts, sondern starrte unverwandt auf Kincaid.

Kincaids Miene nahm für einen Augenblick einen verhärteten, trotzigen Zug an, als er Luntoks Blick erwiderte. Doch als er danach zu Fowler und Shan schaute, die gemeinsam neben dem Wagen standen, schien seine Bestürzung die Oberhand zu gewinnen. Er rannte auf das Verwaltungsgebäude zu.

Fowlers Seufzen war fast schon ein Schluchzen. »Da in meiner Mine Beweisstücke eines Verbrechens versteckt wurden, könnte man uns ausweisen, nicht wahr?« fragte sie.

Shan entgegnete nichts und blickte ihr hinterher, als sie Kincaid mit schleppendem Schritt folgte. Fünf Minuten später fand Shan sie im Computerraum. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und starrte in eine Teetasse. Kincaid war ebenfalls dort und spielte eine langsame, traurige Melodie auf seiner Mundharmonika, während er mit der anderen Hand einen Text über den Monitor der Satellitenkonsole laufen ließ.

»Es ist vorbei«, sagte Shan und nahm gegenüber von Fowler Platz.

»Verdammt richtig. Ich werde meinen Job verlieren. Ich werde meinen guten Ruf verlieren. Ich werde mich glücklich schätzen können, wenn man mir überhaupt noch den Rückflug bezahlt.« Alles an Rebecca Fowler, ihre Stimme, ihr Gesicht, ihr gesamtes Wesen, schien ausgehöhlt worden zu sein.

»Es war nicht Ihre Schuld. Die Armee wird Ihren Damm wieder aufbauen. Das Ministerium für Geologie wird eine offizielle Erklärung erhalten. Dies ist eine Parteiangelegenheit und wird in aller Stille bereinigt werden.«

»Ich weiß nicht einmal, was ich nach Hause berichten soll.«

»Ein Unfall. Eine natürliche Ursache.«

Fowler blickte auf. »Diese arme Frau. Wir haben sie gekannt. Tyler hat sie manchmal auf Wanderungen mitgenommen.«

»Ich habe ihr Foto an der Wand gesehen.« Shan nickte. »Aber ich glaube, daß sie in Ankläger Jaos Ermittlungen eingeweiht war. Wenn Jao sterben mußte, dann sie auch.«

»Jemand hat gesagt, sie wäre im Urlaub.«

»Jemand hat gelogen.« Er erinnerte sich, wie aufgeregt Tan gewirkt hatte, nachdem es ihm scheinbar gelungen war, Lihua per Fax zu erreichen. Die Faxe waren tatsächlich in Hongkong abgeschickt worden. Shan hatte die Kennung der Sendestelle gesehen. Eine entsprechende Überprüfung hatte ergeben, daß es sich unzweifelhaft um das örtliche Büro des Justizministeriums handelte. Jemand in Hongkong hatte gelogen. In Lhadrung hingegen war es Li, der gelogen hatte, als er behauptete, er hätte die Sekretärin in der Nacht ihres Todes zum Flughafen gefahren.

»Die Satellitenfotos und die Wassergenehmigungen«, sagte Fowler. »Das hatte irgendwie damit zu tun.«

»Ich fürchte, Sie haben recht.«

Fowler barg erneut das Gesicht in den Händen. »Sie meinen, ich habe das alles in Gang gesetzt?«

»Nein. Was Sie in Gang gesetzt haben, war das Ende von all dem.«

»Das Ende von Jao. Das Ende von Lihua.« Ihre Stimme klang leer.

»Nein. Jaos Ermordung war schon längst beschlossene Sache. Und daher mußte man auch Miss Lihua irgendwie verschwinden lassen.«

Fowler blickte mit gehetzter Miene auf.

»Es waren sogar fünf Morde, wenigstens soweit wir wissen. Plus die drei Unschuldigen, die zu Unrecht hingerichtet wurden.« Bevor er fortfuhr, goß Shan sich etwas Tee aus einer Thermosflasche ein, die auf dem Tisch stand. Nachdem er die Leiche in dem Wagen gesehen hatte, kam es ihm so vor, als würde er das flaue Gefühl im Magen vielleicht nie wieder loswerden. »Das alles wirkte völlig konfus. Was ich zunächst nicht erkannt habe, war die Tatsache, daß es hier um zwei Fälle ging, nicht nur um einen. Das erste war der Mord an Ankläger Jao. Das andere war die Untersuchung, an der Jao gearbeitet hatte. Ich konnte den Mord nicht verstehen, solange ich Jaos Ermittlungen nicht begriff. Und die Motive. Nicht eines, nicht zwei, sondern mehrere, die alle in jener Nacht auf der Drachenklaue zusammengelaufen sind.«

»Fünf Morde? Jao, Lihua...«

»Und die Opfer, die Gegenstand der früheren Prozesse waren. Der ehemalige Direktor für Religiöse Angelegenheiten. Der ehemalige Direktor der Minen. Der ehemalige Leiter des Kollektivs der Langen Mauer. Dann die Mönche. Ich habe die Fünf von Lhadrung zu keinem Zeitpunkt für schuldig gehalten. Doch die wahrscheinlichen Verdächtigen paßten nicht zu dem Verbrechen. Es gab kein Muster. Weil es nämlich kein Einzeltäter war. Sie alle sind es gewesen.«

»Alle? Doch nicht alle purbas.«

Shan schüttelte den Kopf und seufzte. »Am schwierigsten war es, eine Verbindung zwischen den Opfern herzustellen. Sie alle hatten in leitender Funktion an einer großen Regierungsoperation mitgewirkt, also standen sie symbolisch für das Leid, das den Tibetern zugefügt wurde. Die Aktivisten kamen natürlich sofort als Verdächtige in Betracht. Aber niemand hat ein weitaus direkteres Motiv in Erwägung gezogen. Die Opfer waren allesamt hohe Beamten, und sie waren alle alt.«

»Alt?«

»Sie waren die Leiter ihrer jeweiligen Dienststellen. Ihrer überaus einflußreichen Dienststellen. Gemeinsam hatten sie die Kontrolle über den Großteil des Bezirks. Und unter ihnen, als nächster in der Reihe, wartete jemand, der sehr viel jünger war. Ein Mitglied des Bei Da-Verbands.« Er stellte sich vor die Konsole. Kincaid überprüfte das Verzeichnis der Kartenanforderungen.

Rebecca Fowlers Mund öffnete sich, aber sie schien zunächst kein Wort herauszubekommen. »Soll das heißen, der Verband war so eine Art Mörderklub?« fragte sie schließlich.

Shan ging entlang des langen Tisches auf und ab. »Li war der Nachfolger von Jao. Wen übernahm nach Lins Tod das Büro für Religiöse Angelegenheiten. Hu übernahm das Ministerium für Geologie. Der Leiter des Kollektivs der Langen Mauer mußte nicht ersetzt werden, weil das Kollektiv aufgrund seiner kriminellen Machenschaften aufgelöst wurde. Vielleicht wußten die anderen sogar gar nichts davon, als sie mit ihren Morden begannen. Aber als sie herausbekamen, daß man als Drogenproduzent ziemlich viel Geld verdient, wie konnten sie da noch widerstehen?« Was hatte Li bei ihrem ersten Zusammentreffen gesagt? Tibet war ein Land voller günstiger Gelegenheiten. Shan nahm einen der amerikanischen Hochglanzkataloge und schob ihn zu Fowler herüber. »Die meisten der Sachen hier drin kosten mehr als eines der monatlichen Beamtengehälter dieser Männer.«