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In Kincaids Blick lag noch immer ein Rest Trotz. »Tamdin ist der Beschützer der Tibeter«, sagte er langsam. »Das Volk muß wieder an die alten Werte glauben. Ich habe nicht mehr getan, als die Buddhisten zu beschützen. Wir haben sie gerettet. Wir haben die Fünf von Lhadrung gerettet.«

»Was meinen Sie damit?«

»Die anderen sind in Nepal. Das war Teil des Plans. Sobald offiziell verkündet worden war, man hätte sie hingerichtet, würde niemand mehr bemerken, daß sie in Wirklichkeit über die Grenze geschmuggelt wurden. Der Major hat sie rübergebracht. Sie sind alle am Leben.«

Shan seufzte und griff in seine Tasche. Der Irrglaube des Amerikaners hing nur noch an diesem einen dünnen Faden. Shan reichte ihm die Fotos der drei Hinrichtungen. Nachdem Kincaid die Hälfte der Bilder gesehen hatte, fiel er auf die Knie. Als er aufblickte, sah er nicht zu Shan, sondern zu Fowler. Ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Brust.

»Es ging nicht um Drogen«, rief er. »Du mußt mir glauben. Falls ich je geahnt hätte...«

Die Tränen, die über seine Wangen liefen, schienen Fowler aus der Erstarrung zu reißen. Als sie ihm antwortete, klang sie, als wollte sie ein Kind trösten. »Dann hättest du dir für diese Leute kein Kostüm angezogen, nicht wahr, Tyler?«

»Es ging um Hitler. Es ging um Stalin. Du weißt, was man hier angerichtet hat. Wir wollten das ändern. Du verstehst es, Rebecca. Ich habe immer gewußt, daß du es verstehen würdest. Eines Tages würdest du stolz auf mich sein. Man darf ihnen nicht verzeihen. Jemand muß...« Er hielt inne, als er die Abscheu in ihrer Miene bemerkte. »Rebecca! Nein!« schrie er, warf sich zu ihren Füßen hin und hämmerte mit der Faust auf den Boden.

Kapitel 21

Die Verhaftungen waren umgehend erfolgt, berichtete Oberst Tan. Li Aidang, Hu und Wen Li hatten sich auf ihrem Privatgelände befunden und kistenweise Unterlagen in ihre Land Rover geladen. Der Major war direkt zu seinem Helikopter geeilt und hatte gewiß darauf vertraut, über die Grenze fliehen zu können, doch Tan hatte die Maschine in der Nacht zuvor fluguntauglich machen und durch eine handverlesene Abteilung seiner Soldaten bewachen lassen. Fünfzig weitere von Tans Männern wurden zur Durchsuchung der Gebäude des Bei Da-Verbands abgestellt. Sie benötigten sechs Stunden, um den Tresor zu entdecken, den man in den unterirdischen Schrein des alten Klosters eingebaut hatte. Darin fanden sich Bankunterlagen über Konten in Hongkong, Namen aus Hongkong sowie eine Aufstellung des bislang verarbeiteten Opiums.

Shan arbeitete die ganze Nacht an seinem Bericht. Am Morgen, kurz nach Anbruch der Dämmerung, wurden Sungpo und Jigme aus dem Depot des Lagers Jadefrühling entlassen, in dem Tan sie versteckt hatte. Shan stand am Tor und schaute ihnen entgegen. Er wollte etwas sagen, doch ihm fehlten die Worte. Die beiden gingen durch das Tor, ohne Shan zu beachten. Sie lehnten es ab, sich fahren zu lassen. Nach sechs oder sieben Metern drehte Jigme sich um und nickte ihm mit siegreichem Lächeln kaum merklich zu.

Zwei Stunden später stand Shan in seiner Häftlingskleidung in Tans Büro. Unaufhörlich klingelte das Telefon. Zwei junge, schneidige Offiziere gingen Madame Ko zur Hand.

»Das Justizministerium hat bereits beschlossen, Ankläger Jao zum Helden des Volkes zu ernennen. Man wird seiner Familie einen Orden schicken«, verkündete Tan teilnahmslos.

»Außerdem rechnet man damit, im Verlauf des heutigen Tages einige Festnahmen in Hongkong vorzunehmen. Li hat die ganze Nacht geredet. Er wollte uns glauben machen, seine Beteiligung sei Teil der eigenen Ermittlungen gewesen. Außerdem hat er uns so viele Beweise geliefert, daß man ein ganzes Buch damit füllen könnte. Aus Lhasa ist ein General der Öffentlichen Sicherheit eingetroffen. Es gibt einen besonderen Ort in den Bergen, den das Büro in solchen Fällen benutzt. In der morgigen Zeitung wird das Volk von einem tragischen Unfall auf einer Hochgebirgsstraße lesen können. Keine Überlebenden.«

Shan sah aus dem Fenster. Die 404te war noch immer nicht an der Arbeit.

Tan folgte seinem Blick. »Ohne die Brücke besteht kein Bedarf für eine Straße«, sagte er. »Das Projekt ist eingestellt worden.«

Shan drehte sich überrascht um.

»Für eine neue Brücke ist kein Geld da«, erklärte Tan achselzuckend. »Die Einheiten der Öffentlichen Sicherheit befinden sich bereits auf dem Rückweg zur Grenze. Die 404te wird nicht bestraft. Ab morgen ist sie einem neuen Projekt zugeteilt. Bewässerungsgräben im Tal.« Tan gesellte sich für einen Moment zu Shan ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter, wo Sergeant Feng an dem Geländewagen lehnte. »Du hast ihn zugrunde gerichtet.«

»Feng?«

»All diese Jahre unter meinem Befehl, und jetzt bittet er um eine Versetzung. So weit wie möglich von einem Gefängnis entfernt. Er sagt, er will in Erfahrung bringen, ob noch jemand aus seiner Familie am Leben ist. Und er möchte zum Grab seines Vaters.« Tan wies ungelenk auf eine Papiertüte, die auf dem Tisch stand. »Hier. Madame Kos Idee«, sagte er. Er klang seltsam angespannt, gar nicht so fröhlich, wie Shan erwartet hatte.

In der Tüte befanden sich ein neues Paar Militärstiefel und Arbeitshandschuhe.

Shan sagte nichts, sondern setzte sich und fing an, seine Schuhe aufzuschnüren. »Was ist mit dem Amerikaner?«

Tan zögerte. »Der Amerikaner stellt kein Problem mehr da. Man hat sich bereits mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung gesetzt.«

»Wurde er schon abgeschoben?«

Tan zündete sich eine Zigarette an. »Mr. Kincaid ist letzte Nacht auf die Klippe oberhalb der Schädelhöhle geklettert. Dann hat er sich ein Seil um den Hals gebunden und ist gesprungen. Die Arbeitsmannschaft hat ihn heute früh gefunden, wie er über der Höhle hing.«

Shan biß die Zähne zusammen. So viele Leben waren verschwendet worden. Weil Kincaid zu sehr gesucht hatte. »Und Fowler?«

»Sie kann bleiben, falls sie möchte. Es gibt eine Mine zu leiten.«

»Sie wird bleiben«, sagte Shan, streifte die Schuhe ab und band die Schnürsenkel zusammen, damit er sie besser tragen konnte. Madame Ko zuliebe würde er jetzt die Stiefel anziehen und sie später dann Choje geben.

Tan starrte unschlüssig auf einen gefalteten Zeitungsartikel, der auf seinem Tisch lag. Als Shan sich die Stiefel anzog, schob Tan ihm das Blatt zu.

Der Bericht war zehn Tage alt. Ein ganzseitiger Nachruf. Man trauerte um Minister Qin vom Wirtschaftsministerium, der unter allen aktiven Regierungsmitgliedern als einziger noch zu den Überlebenden der Achten Armee des Langen Marsches gehört hatte.

»Ich habe in Peking angerufen. Er hat dich betreffend keinerlei Anweisungen hinterlassen. In seinem Büro wurde bereits ein großer Hausputz durchgeführt. Anscheinend wollten ziemlich viele Leute, daß seine Unterlagen so schnell wie möglich vernichtet werden. Die Akten sind alle weg. Und von der neuen Belegschaft hat keiner je etwas von Befehlen hinsichtlich deiner Person gehört.«

Shan faltete das Blatt zusammen und steckte es ein. Das waren nicht unbedingt gute Neuigkeiten. Solange Qin am Leben gewesen war, hatte es wenigsten jemanden gegeben, der sich an ihn erinnerte und über seine Tätowierung entscheiden konnte. Er wäre nicht der erste, der in einem chinesischen Gefängnis vergessen wurde.

Tan schlug die schmale braune Mappe auf, die Shan bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. »Das hier ist inzwischen der einzige offizielle Beleg für deine Existenz.« Tan klappte die Akte zu.

»Einen Fund hat man in Peking dennoch gemacht.« Tan hob ein Päckchen an, das in ein Wachstuch gewickelt war. »Es gab zwar keine Akte, aber das hier lag auf seinem Schreibtisch, wie eine Art Trophäe. Dein Name stand darauf. Ich dachte, du würdest...« Er verstummte und schlug die Verpackung auf. Auf dem Wachstuch lag ein kleiner, abgenutzter Bambusbehälter.