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Shan starrte ihn ungläubig an. Langsam wanderte sein Blick von dem vertrauten Behältnis zu Tan, der ebenfalls den Gegenstand betrachtete. »Ich habe früher oft den taoistischen Priestern zugeschaut«, sagte Tan gedankenverloren. »Sie warfen die Stengel und rezitierten dann Verse vor Gruppen von Kindern.«

Shans Hand zitterte, als er danach griff und den Deckel öffnete. Die lackierten Stengel befanden sich noch immer darin, die alten Schafgarbenstengel, die seit seinem Urgroßvater weitervererbt worden waren und mit denen man das Taoteking befragte. Da dies der einzige materielle Besitz gewesen war, der Shan etwas bedeutete, hatte der Minister sehr viel Wert darauf gelegt, ihm die Stengel persönlich wegzunehmen. Shan mußte erst nachdenken, wie man die Geste vollführte, die einst wie ein Reflex für ihn gewesen war. Dann streute er die Stengel mit einer langsamen, fächerförmigen Bewegung aus. Peinlich berührt schaute er auf.

»Es weckt Erinnerungen«, sagte Tan in einem merkwürdigen, gequälten Tonfall. Er sah Shan an, und sein Gesicht verzog sich fragend. »Es gab einst eine bessere Zeit, nicht wahr?« fragte er mit plötzlicher Ergriffenheit.

Shan lächelte nur traurig. »Das hier ist ein Familienerbstück«, sagte er sehr leise. »Wie freundlich von Ihnen. Ich hatte keine Ahnung, daß es noch existierte.«

Er rollte die Stengel zwischen den Fingern und war überrascht, wie angenehm sie sich anfühlten. Dann packte er sie fest, schloß die Augen, steckte die Stengel zurück in die Dose und wog sie in den Händen. Für den Bruchteil einer Sekunde roch er einen schwachen Hauch Ingwer, und er spürte, daß sein Vater in der Nähe war.

»Vielleicht dürfte ich um einen großen Gefallen bitten«, sagte Shan.

»Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Du bekommst ein paar Wochen lang nur leichte Dienste zugewiesen.«

»Nein, ich meine das hier.« Behutsam legte er die Dose wieder auf das Wachstuch. »Man wird es konfiszieren. Einer der Wachposten wird es ins Feuer werfen. Oder verkaufen. Könnten Sie oder Madame Ko es nicht aufbewahren, bis irgendwann später?«

Tan musterte ihn bekümmert. Er schien etwas sagen zu wollen, aber dann nickte er nur unbeholfen und wickelte den Behälter wieder ein. »Natürlich. Deine Sachen sind hier in Sicherheit.«

So ließ Shan ihn dort zurück, wie er auf die Stengel starrte.

Madame Ko wartete. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ihr Bruder«, sagte Shan und erinnerte sich an die Hingabe, mit der sie ihrem Verwandten treu blieb, der schon vor so vielen Jahren im Gulag verschwunden war. »Ich bin der festen Überzeugung, Sie haben ihm mit Ihrem Verhalten eine große Ehre erwiesen.«

Sie umarmte ihn, wie eine Mutter einen Sohn umarmen würde. »Nein«, sagte sie. »Sie sind es, der ihm Ehre erwiesen hat.«

Shan war schon halb den Korridor hinuntergegangen, als Tan ihm hinterherrief, er möge warten. Langsam und unsicher kam der Oberst auf ihn zu. In einer Hand hielt er die Bambusdose, in der anderen Shans Akte.

»Offiziell kann ich wegen einer Pekinger Akte nichts unternehmen«, sagte Tan. »Nicht mal, wenn es sich um eine verschwundene Akte handelt.«

»Natürlich«, sagte Shan. »Wir hatten eine Vereinbarung. Beide Seiten haben ihren Teil ehrenwert erfüllt.«

»Du hast also keine Reisepapiere. Nicht einmal Arbeitspapiere. Überall außerhalb dieses Bezirks droht dir eine Verhaftung.«

»Ich verstehe nicht.«

Tans Augen begannen in einem Licht zu erstrahlen, das Shan noch nie bei dem Oberst wahrgenommen hatte. Er reichte Shan die Akte.

»Hier. Du existierst nicht mehr. Ich rufe den Gefängnisdirektor an. Man wird dich von der Häftlingsliste streichen.« Langsam streckte Tan die Dose aus, und ihre Blicke trafen sich, als wäre es das erste Mal.

»Dieses Land«, seufzte Tan. »Es macht das Leben so schwierig.« Er nickte, fast wie zur Antwort auf seine eigene Behauptung, ließ dann die Dose in Shans Hand fallen, drehte sich um und ging in sein Büro zurück.

Dr. Sung stellte keine Fragen. Wortlos gab sie ihm fünfzig Einheiten Pockenimpfstoff, bat ihn, kurz zu warten, und holte ihm eine Broschüre, in der die Verabreichung der Medizin beschrieben wurde. »Ich höre, sie sind verschwunden«, sagte sie ungerührt. »Die Bei Da-Jungs. Als ob sie nie existiert hätten. Es heißt, aus Lhasa sei ein spezieller Säuberungstrupp gekommen.« Sie fand eine kleine Leinentasche für die Medizin und folgte ihm dann auf die Straße, als sei es ihr unmöglich, ihm auf Wiedersehen zu sagen.

Dort stand sie, und der Wind zerrte an ihrem Kittel, während Shan sich mit einem verlegenen Achselzucken verabschiedete. Im letzten Moment holte sie einen Apfel hervor und steckte ihn in Shans Tasche. Er lächelte sie dankbar an.

Es war ein langer Weg nach Yerpa.

Anmerkung des Verfassers

Die Figuren und Ereignisse dieses Romans sind ausnahmslos erfunden. Der fünfzigjährige Existenzkampf des tibetischen Volkes, das in einer Zeit höchster Not um Glauben und kulturelle Integrität ringt, ist es nicht.

Glossar der fremdsprachigen Begriffe

Begriffe, die nur einmal auftauchen und deren Bedeutung sich aus der jeweiligen Textstelle erschließt, wurden nicht in dieses Glossar aufgenommen.

Amdo Tibetisch. Eine der traditionellen Provinzen Tibets, die den nordöstlichen Teil des ursprünglichen Staatsgebiets einnimmt (gleichzeitig der Name der Provinzhauptstadt); wurde von der Volksrepublik China in Provinz Qinghai umbenannt.

Bardo Tibetisch. Kurzform für die Bardo-Todesriten; bezieht sich speziell auf die übergangsphase zwischen Tod und Wiedergeburt.

Hayal Tibetisch. Traditionell ein »verborgenes Land«; ein Ort, an dem Gottheiten und andere heilige Wesen wohnen.

Bharal Tibetisch. Ein »blaues« Schaf, beheimatet im Hochgebirge Tibets. Mittlerweile nahezu ausgestorben.

Chakpa Tibetisch. Ein Bronzetrichter, mit dessen Hilfe aus Sand Gemälde hergestellt werden.

Chang Tibetisch. Tibetisches Bier, zumeist aus Gerste gebraut.

Changtang Tibetisch. Die gewaltige Hochebene, die das nördliche Zentraltibet dominiert.

Chenyi Tibetisch. Wörtlich »rechtes Auge«.

Chorten Tibetisch. Eine Stupa, ein traditioneller buddhistischer Schrein mit Kuppel und Spitze, zumeist als Reliquienschrein genutzt.

Chuba Tibetisch. Ein schwerer, einem Umhang ähnelnder Mantel aus Schaffell oder dickem Wollstoff.

Dhakang Tibetisch. Die Versammlungshalle eines Klosters.

Dobdob Tibetisch. Traditionell ein Mönchspolizist, der in großen Klöstern für die Einhaltung der Disziplin sorgt.

Dongma Tibetisch. Ein hölzernes Butterfaß, in dem auf traditionelle Weise Buttertee hergestellt wird.

Doja Tibetisch. Eine rote Creme, die aus Molke gewonnen wird. Die Nomaden tragen sie auf die Haut auf, um sich vor den Strahlen der Hochge- birgssonne zu schützen.

Dorje Tibetisch. Abgeleitet aus dem sanskritischen »vajre«; ein Ritualgegenstand in der Form eines Zepters, der die Macht des Mitleids symbolisiert. Es heißt, eine dorje sei »unzerbrechlich wie Diamant« und »mächtig wie ein Donnerkeil«.

Drong Tibetisch. Ein wildlebender Yak.

Dropka Tibetisch. Ein Nomade der Changtang; wörtlich ein »Bewohner des schwarzen Zeltes«.