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»Eine große Verantwortung«, stellte Shan fest.

Yeshe schaute stumm zu Boden. Er schien außerstande zu sein, Wen anzusehen. Langsam und ungelenk, als bereite es ihm Schmerzen, holte er seinen Notizblock hervor und fing an, das Gespräch zu protokollieren.

»Siebzehn gompas. Dreihunderteinundneunzig Mönche. Und eine lange Warteliste.«

»Und die Bestandslisten der gompas!«

»Wir haben ein paar. Das Antragsverfahren ist recht langwierig. Unter anderem wird auch eine umfassende Übersicht verlangt.«

»Ich meine die alten gompas.«

»Alt?«

Shan sah Wen an, ohne zu blinzeln. »Ich kenne Mönche, die hier vor Jahrzehnten gelebt haben. 1940 gab es in diesem Bezirk einundneunzig gompas und Tausende von Mönchen.«

Wen winkte ab. »Das war lange vor meiner Geburt. Vor der Befreiung. Als die Kirche noch als Instrument zur Unterdrückung des Proletariats benutzt wurde.«

Yeshe starrte unverwandt auf seinen Notizblock. Diese Reaktion hatte nichts damit zu tun, daß Shan ihm zuvor Zhongs wahre Absichten erläutert hatte. Nein, es lag an Wen. Und Yeshes Verhalten zeugte auch nicht von Schmerz, erkannte Shan. Es war Angst. Weshalb war er wegen des Direktors für Religiöse Angelegenheiten dermaßen beunruhigt? »Damals«, sagte Shan, »gab es in manchen der großen gompas an Festtagen besondere Tanzzeremonien.«

Wen nickte. »Ich habe entsprechende Filme gesehen. Die Kostüme waren kunstvoll gearbeitet und stellten Sinnbilder dar. Gottheiten, Geister, Dämonen, Clowns.«

»Wissen Sie, wo diese Kostüme sich heutzutage befinden?«

»Eine faszinierende Frage.« Er nahm den Telefonhörer ab.

Kurz darauf erschien eine junge Tibeterin an der Tür. »Ah, Miss Taring«, begrüßte Wen sie. »Unsere... Freunde haben nach den alten Festspielkostümen gefragt und wo man sie heute finden könnte.« Er wandte sich an Shan. »Miss Taring ist unsere Archivarin.«

Die Frau nickte Shan zu und nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz. »In Museen«, sagte sie in steifem Tonfall und nahm ihre metallgeränderte Brille ab. »Peking, Chengdu oder auch das Kulturmuseum in Lhasa.«

»Aber man findet doch immer neue Artefakte«, sagte Shan.

»Wurde vielleicht bei einer kürzlichen Prüfung ein solches Kostüm entdeckt?« murmelte Yeshe.

Die Frage schien Miss Taring zu überraschen. Ihr Blick richtete sich hilfesuchend auf Wen. »Ja, wir führen entsprechende Überprüfungen durch«, sagte Wen. Yeshe sah ihn noch immer nicht an. »Die Lizenzen wären bedeutungslos, würde man die Voraussetzungen nicht genau kontrollieren.«

»Und die Artefakte werden aufgelistet?« fragte Shan.

»Die Artefakte gehören dem Volk und sind Teil des Vermögens, das aus den Beständen der Kirche zurückgegeben wird. Die gompas übernehmen für uns die treuhänderische Verwaltung. Selbstverständlich müssen wir nachprüfen, was sich wo befindet.«

»Und manchmal werden auch neue Artefakte entdeckt.« Shan ließ nicht locker.

»Manchmal.«

»Aber keine Kostüme.«

»Nicht seitdem ich hier Dienst tue.«

»Wie können Sie da sicher sein?« fragte Shan. »In Ihren Bestandsverzeichnissen müssen doch Tausende von Artefakten aufgeführt sein.«

Wen lächelte herablassend. »Verehrter Genosse, Sie müssen sich vergegenwärtigen, daß diese Kostüme unersetzliche Schätze darstellen. Falls man heutzutage eines davon fände, würde das ziemliches Aufsehen erregen.«

Shan schaute zu Yeshe, um sich zu vergewissern, daß dieser nach wie vor schrieb. Hatte er richtig gehört? Verehrter Genosse? Er wandte sich an die Archivarin. »Miss Taring, Sie sagen, alle bekannten Kostüme befänden sich in Museen.«

»Einige der großen gompas in der Nähe von Lhasa haben die Erlaubnis erhalten, diese Tänze wieder aufzuführen. Bei gewissen genehmigten Veranstaltungen. Hauptsächlich für Touristen.« Sie musterte ihn argwöhnisch.

»Devisen«, sagte Shan.

Miss Taring nickte ungerührt.

»Hat Ihre Behörde eine vergleichbare Genehmigung für Lhadrung erteilt?«

»Noch nie. Die hiesigen Klöster sind zu arm, um solche Zeremonien durchführen zu können.«

»Ich dachte, vielleicht jetzt, wo doch die Amerikaner kommen..«

Direktor Wens Augen leuchteten auf, und er sah die Archivarin an. »Warum sind wir noch nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen?« Er wandte sich Shan zu. »Miss Taring organisiert unsere Vorkehrungen für den Besuch der Amerikaner und wird auch als Fremdenführerin zu einigen kulturellen Sehenswürdigkeiten dienen. Sie spricht Englisch mit amerikanischem Akzent.«

»Eine hervorragende Idee, Genosse Direktor«, sagte die Archivarin. »Aber es gibt hier keine geübten Tänzer. Viele dieser Kostüme sind vielleicht nicht das, was Sie glauben - es handelt sich eher um ganz besondere Maschinen. Mechanische Arme, komplizierte Befestigungen und dergleichen mehr. Die Mönche mußten monatelang trainieren, nur um zu begreifen, wie man mit diesen Kostümen umzugehen hatte. Bis sie gut genug für eine Zeremonie waren und die Tänze und genauen Bewegungen kannten, benötigten sie bisweilen mehrere Jahre.«

»Aber eine kurze Vorführung bei einem der neuen Projekte müßte machbar sein«, behauptete Wen. »Die Amerikaner brauchten doch gar nicht den authentischen Tanz zu sehen, sondern bloß die Kostüme, verbunden mit ein paar anmutigen Bewegungen, einigen Zimbeln und Trommeln. Sie könnten Fotos schießen.«

Miss Taring schenkte Direktor Wen ein knappes, unverbindliches Lächeln.

»Neue Projekte?« fragte Shan.

»Ich bin erfreut, Ihnen mitteilen zu können, daß einige gompas unter unserer Aufsicht wieder aufgebaut worden sind. Es stehen dafür öffentliche Mittel zur Verfügung.«

Öffentliche Mittel. Was mochte das bedeuten? überlegte Shan. Daß man die alten Schreine ausplünderte, um stattdessen Attrappen zu errichten? Daß man Altertümer zerstörte, um mit dem Erlös Kulissen zu finanzieren, in denen man buddhistische Scharaden für die Touristen aufführen konnte? »Hat Ankläger Jao an der Erteilung der Lizenzen für solche Projekte mitgewirkt?« fragte er.

Der Direktor stellte seine Tasse ab. »Danke, Miss Taring.« Die Archivarin stand auf und verneigte sich leicht vor Shan und Yeshe. Wen wartete, bis sie gegangen war. »Tut mir leid. Ich glaube, Sie wollten auf den Mord zu sprechen kommen.«

»Genosse Direktor, ich habe die ganze Zeit über den Mord gesprochen«, sagte Shan.

Wen starrte ihn mit neuem Interesse an. »Es gibt ein Komitee. Jao, Oberst Tan und ich selbst. Jeder hat hinsichtlich der Entscheidungen ein Vetorecht.«

»Nur wenn es um den Wiederaufbau geht.«

»Bei Lizenzen, Aufbauprojekten, der Genehmigung zur Aufnahme neuer Novizen, der Publikation religiöser Traktate, der Einladung der Öffentlichkeit zur Teilnahme an Gottesdiensten.«

»Hat Ankläger Jao jemals einen solchen Antrag abgelehnt?« fragte Shan.

»Das haben wir alle schon getan. Die Verteilung der kulturellen Ressourcen muß genau abgewogen werden, um Mißbrauch zu vermeiden. Die tibetische Minderheit ist nur ein kleiner Teil der chinesischen Bevölkerung. Wir können einfach nicht jedes Gesuch pauschal genehmigen«, verkündete Wen nachdrücklich und mit geübter Stimme.

»Und in letzter Zeit? Gab es irgendein besonderes Projekt, das Jao partout nicht unterstützen wollte?«

Wen schaute zur Decke und verschränkte die Hände im Nacken. »Nur eines während der letzten paar Monate. Er hat einen Antrag auf Wiederaufbau abgelehnt. Das Kloster Saskya.«

Saskya war Sungpos gompa. »Aus welchem Grund?«

»Am unteren Ende desselben Tals gibt es noch ein weiteres, größeres gompa. Khartok. Es hatte zuvor bereits um Wiederaufbau ersucht. Es liegt weitaus günstiger für die Besucher und bedeutet daher eine bessere Investition.«