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»Ich weiß. Ich habe darum gebetet.« Der Mann streckte die Arme aus, als würde man ihm gleich Handschellen anlegen.

»Ist das hier Sungpos Klause?«

»Ich bin Jigme«, sagte der Mann, als sollte Shan ihn kennen. »Ißt er?«

Shan musterte die merkwürdige Kreatur. Der Mann wirkte irgendwie zurückgeblieben. Die Hände und Ohren waren zu groß für den Körper, und seine Lider hingen schlaff herab wie die eines traurigen, müden Bären. »Nein. Er ißt nicht.«

»Das habe ich auch nicht vermutet. Manchmal muß ich seinen Tee gegen Brühe austauschen. Hat er es trocken?«

»Er hat Stroh und ein Dach über dem Kopf.«

Der Mann namens Jigme nickte billigend. »Manchmal fällt es ihm schwer, sich daran zu erinnern.«

»Woran?«

»Daß er noch immer nur ein Mensch ist.«

Yeshe und Feng tauchten neben Shan auf. Jigme murmelte eine Begrüßung. »Ich bin bereit«, sagte er mit eigenartig fröhlicher Stimme. »Ich muß nur noch abschließen. Und etwas Reis für die Mäuse zurücklassen. Wir lassen den Mäusen immer etwas zu essen da. Master Sungpo liebt die Mäuse. Er kann vielleicht nicht mit dem Mund lachen, aber er lacht mit den Augen, wenn die Mäuse ihm aus der Hand fressen. Es kommt direkt aus dem Herzen. Haben Sie ihn lachen gesehen?«

Als niemand darauf antwortete, zuckte Jigme die Achseln und wollte in die Hütte gehen.

»Wir sind nicht hergekommen, um Sie abzuholen«, sagte Shan. »Ich habe bloß ein paar Fragen.«

Jigme blieb stehen. »Sie müssen mich mitnehmen«, sagte er und riß beunruhigt die Augen auf. »Ich hab's getan«, fügte er dann in verzweifeltem Tonfall hinzu.

»Was?«

»Was auch immer er gemacht hat, ich habe es auch getan. So sind wir eben.« Er ließ sich zu Boden sinken und umschlang seine Knie mit den Armen.

»Wie oft verläßt Sungpo die Hütte?«

»Jeden Tag. Er geht zum Rand der Klippe und setzt sich dort jeden Morgen für zwei oder drei Stunden hin.« Jigme fing an, sich vor und zurück zu wiegen.

»Ich meine, geht er von hier weg? So daß Sie ihn nicht mehr sehen können?«

Jigme wirkte verwirrt. »Sungpo ist schon seit fast einem Jahr in Klausur. Er kann nicht von hier weggehen.« Er blickte auf, als ihm der Fehler bewußt wurde. »Nicht aus eigenem Willen«, fügte er hinzu. Er schien jetzt fast zu weinen. »Es ist schon in Ordnung«, sagte er entschuldigend. »Großvater sagt, wir fangen von vorn an, wenn er wiederkommt.«

»Aber Sie sind nicht ständig bei ihm. Sie schlafen. Er könnte weggehen und wieder zurückkommen, bevor Sie aufwachen.«

»O nein. Ich weiß es immer. Es ist meine Aufgabe, es zu wissen und auf ihn aufzupassen. Einsiedler können sich konzentrieren wie...« Die Suche nach einem geeigneten Vergleich schien ihm beinahe Schmerzen zu bereiten. »... wie ein Stück Kohle in einem Holzfeuer. Sie können in den Abgrund stürzen. Das ist schon passiert. Er gehört zu mir. Ich gehöre zu ihm.« Er schaute auf seine Hände. »Es ist eine gute Welt.« Aber Shan wußte, daß er nicht von der Welt im allgemeinen sprach.

Er sprach lediglich von einem winzigen Plateau in einem entlegenen Verwaltungsbezirk in einer vergessenen Ecke von Tibet.

»Es gibt einen Mann, mit dem er vielleicht sprechen wird«, gab Shan zu verstehen.

»Großvater. Je Rinpoche.« Jigmes Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

»Ist Rinpoche hier?«

»Im gompa.«

»Der Tag, als man Sungpo abgeholt hat. Erzählen Sie mir davon.«

Jigme fing wieder an, sich zu wiegen. »Es waren sechs oder sieben. Waffen. Sie haben Waffen mitgebracht. Ich habe schon einiges über Waffen gehört.«

»Welche Farbe hatten ihre Uniformen?«

»Grau.«

»Alle?«

»Alle, außer bei dem jüngsten Mann. Er hatte einen Einschnitt im Gesicht. Sein Name war Mah Joa. Alle haben ihn Mah Joa genannt. Er hat einen Pullover und eine dunkle Brille getragen. Er hat nach dem Abt geschickt. Er wollte nichts unternehmen, bevor der Abt hier ankam.«

»Es heißt, man habe eine Brieftasche gefunden.«

»Unmöglich.«

»Man hat also keine gefunden?«

»Nein. Ich meine, doch, sie haben eine gefunden. Ich war dabei. In dieser Höhle. Mah Joa hat den Abt hergebracht. Sie hatten Taschenlampen. Er hat einen Stein umgedreht, und da lag sie. Aber es war unmöglich, daß sie da liegen konnte.«

»Wie lange hat man danach gesucht?«

»Die Soldaten haben überall gesucht. Sie haben meine Körbe umgedreht und meine Blumentöpfe zerbrochen.«

»Aber wie lange, nachdem dieser Mann namens Mah in Ihrer Höhle gewesen war?«

»Er hat den Abt in die Höhle mitgenommen. Jemand hat sofort ganz aufgeregt gerufen. Dann ist Mah Joa hergekommen und hat Sungpo Ketten angelegt.«

»Zeigen Sie mir den Stein.«

Der flache Stein lag fünfzehn Meter im Innern der Höhle und war groß genug, um als Sitzgelegenheit dienen zu können. Shan bat Yeshe, Jigme mit nach draußen zu nehmen. Er zeichnete den Grundriß der Höhle in seinen Notizblock und beugte sich dann mit einer Kerze über den Stein. Mit den Fingern fuhr er an der Kante entlang und hielt plötzlich inne. Auf der Seite, die zum Eingang wies, war eine klebrige Stelle, ein kleiner rechteckiger Fleck, der an seiner Haut zog. Er bat Feng um drei weitere Kerzen. Drei Meter weiter hinten fand er dann, wonach er suchte. Man hatte es vom Stein aus dorthin geworfen, nachdem es seinen Zweck erfüllt hatte. Ein Stück schwarzes Isolierband. Der Stein war insgeheim markiert worden, um sicherzustellen, daß die Männer, die wegen der Verhaftung herkamen, ihn auch problemlos finden würden.

»Hat es vor dem Tag, an dem Genosse Mah hier aufgetaucht ist, noch andere Besucher gegeben?« fragte Shan.

»Nein, nicht daß ich wüßte. Außer Rinpoche.«

»Rinpoche. Wo im gompa kann ich ihn finden?«

Jigme schaute an ihm vorbei zum Rand der Klippe. Dort war wieder ein Rabe zu sehen, diesmal mit einem seltsamen weißen Fleck auf dem Hinterkopf. Jigme fing an, die Arme zu schwenken. »Besucher!« rief er dem Vogel zu. »Beeil dich!«

Dann legte er eine Hand an die Stirn, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, und beobachtete den Vogel. »Er kommt«, verkündete er. »Der Rabe sagt, er kommt.«

Je Rinpoche kam nicht. Er wartete. Shan fand ihn nach etwa hundert Metern auf einem Felsvorsprung. Er wirkte überaus gebrechlich. Sein Kopf war fast völlig haarlos und seine Haut rauh, als wäre sie mit Sand überzogen. Doch seine glänzenden, rastlosen Augen funkelten vor Lebendigkeit. Man bekam beinahe den Eindruck, jemand hätte zwei Edelsteine in einen korrodierten Felsen eingesetzt.

Shan legte die Handflächen aneinander und neigte grüßend seinen Kopf. »Rinpoche. Dürfte ich... «

»Es gibt so vieles zu bedenken«, unterbrach der Greis ihn. Seine Stimme war überraschend kräftig. »Diesen Berg. Die Hunde. Die Art und Weise, wie der Nebel die Hänge hinabgleitet, und zwar jeden Morgen anders.« Er drehte sich zu Shan. Sein Gewand bewegte sich dabei kaum. »Manchmal fühle ich mich auch so. Wie Nebel, der den Berg hinabgleitet.« Er sah wieder ins Tal und wickelte sich fester in sein Gewand, als sei ihm kalt. »Jigme bringt zuweilen eine Melone mit. Wir essen sie, und Jigme schaut zu.«

Shan seufzte und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Er würde nie die Gelegenheit erhalten, mit Sungpo zu sprechen. Je, sein Lama, war als möglicher Vermittler Shans einzige Hoffnung gewesen. »Wenn wir auf den Gipfel des Berges steigen, weißt du, was wir dann tun?« fragte der Lama. »Das gleiche, was ich schon als Novize gemacht habe. Wir falten kleine Papierpferde und lassen sie vom Wind davontragen.« Er hielt inne, als würde Shan eine zusätzliche Erklärung benötigen. »Wenn sie den Erdboden berühren, werden sie zu richtigen Pferden, um Reisenden durch das Gebirge zu helfen.«

Neben Je bewegte sich etwas. Nur eine Armeslänge von ihm entfernt war der Rabe gelandet.