»Abt«, sagte der Lama und neigte den Kopf. »Verzeiht mir. Ich dachte, Ihr wärt in Eurer Meditationszelle.«
Abt? Shan warf dem ersten Lama einen verwirrten Blick zu.
»Dies ist unser chandzoe«, bemerkte der Abt, dem Shans fragendes Gesicht auffiel. »Willkommen in Khartok.«
»Chandzoe?« Shan hatte diesen Begriff noch nie gehört.
»Unser Leiter für weltliche Angelegenheiten«, erklärte der Abt.
»Weltliche Angelegenheiten?«
»Der Geschäftsführer«, warf der erste Lama ein, reichte dem Abt eine Tasse Tee und bedeutete ihm mit einer Geste, Platz zu nehmen.
»Warum möchten Sie über unseren Dilgo sprechen?« Der Abt stellte diese Frage so, wie man es vielleicht von einem Kind erwarten würde, mit großen, unschuldigen Augen.
»Er wurde für schuldig befunden, einen Mann ermordet zu haben, indem er ihm Kiesel in den Hals stopfte. Der Mann war zufällig der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten.«
Der chandzoe runzelte die Stirn. Der Abt schaute in seine Teetasse.
»Früher war das die traditionelle Methode, um Angehörige des Königshauses zu töten«, sagte Shan. »Sogar in einer Schlacht durfte man sie nur gefangennehmen und später ersticken.«
»Verzeihen Sie«, sagte der chandzoe. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.« Er schien nicht unbedingt verwirrt, sondern vielmehr enttäuscht über Shan zu sein.
»Nur darauf, daß dies für einen leitenden Regierungsbeamten eine sehr traditionelle Art der Ermordung gewesen ist.«
»Und wie man im Prozeß festgestellt hat, ist Khartok ein überaus traditionelles gompa«, sagte der chandzoe mit einem Anflug von Ungeduld. »Sie können Dilgo nicht zweimal hinrichten.« Unter den Mönchen im Hof kam Unruhe auf und erregte Shans Aufmerksamkeit. Er folgte ihren Blicken zu Feng und Yeshe, die am Rand des Gartens im Schatten standen.
»Falls ich jemanden ermorden wollte, würde ich mit Sicherheit darauf achten, daß meine Methode keine Rückschlüsse auf mich oder meine Überzeugungen zuläßt.«
Der chandzoe stand plötzlich auf. »Yeshe?« rief er. »Yeshe Retang?«
Im ersten Moment zuckte Yeshe zusammen, aber dann sah er die Begeisterung auf dem Gesicht des chandzoe und kam einen Schritt näher. »Ja, Rinpoche. Ich fühle mich geehrt, daß Sie sich an mich erinnern.«
Der chandzoe breitete wieder die Arme aus, wie am Anfang, als Shan ihn zum erstenmal auf der Treppe gesehen hatte, und forderte Yeshe mit einer Handbewegung auf, aus dem Schatten zu treten. Yeshe blieb steif stehen und warf Shan einen verunsicherten Blick zu.
Der chandzoe schaute von Shan zu Yeshe. Er war offensichtlich verwirrt.
»Meine Haftzeit ist seit kurzem vorbei, Rinpoche. Jetzt habe ich diesen Auftrag erhalten. Vorübergehend.«
Yeshe starrte Shan flehentlich an, was der chandzoe mit großem Interesse zu verfolgen schien. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit nun auf Shan und wartete, daß dieser das Wort ergreifen würde. Der befehlshabende Chinese.
»Er hat sich beispielhaft um Besserung bemüht«, hörte Shan sich selbst sagen. »Er zeigt immer wieder eine außergewöhnliche...«, er suchte nach einem Wort, »... Hingabe.«
Der chandzoe nickte befriedigt.
»Ich kann vielleicht eine Anstellung in Sichuan bekommen«, sagte Yeshe nervös.
»Warum kommst du nicht hierher zurück?«
»Meine Akte. Ich kann keine Lizenz erhalten.«
»Deine Umerziehung ist abgeschlossen. Ich könnte mit Direktor Wen sprechen.« Er klang, als sei er Yeshe irgendwie verpflichtet.
Yeshe riß überrascht die Augen auf. »Aber die Quote.«
Der chandzoe zuckte die Achseln. »Falls das ein Problem sein sollte, so gibt es keine Quote für die Anzahl der Arbeiter, die den Wiederaufbau durchführen.« Er zog Yeshes Hände auseinander und umschloß eine davon zum Gruß. »Bitte, komm mit und schau dir die neuen Gebäude an«, sagte er und zog Yeshe in Richtung der Versammlungshalle. Langsam und mit winzigen Schritten, die den Eindruck erweckten, er würde gegen eine unsichtbare Macht ankämpfen, ging Yeshe auf die Halle zu. Unterdessen sah Shan einen weiteren Mönch auf den Stufen, der Yeshe anschaute. Seine Hände bildeten ein mudra, das auf Yeshe gerichtet zu sein schien.
Verwirrt drehte Yeshe sich zu Shan um. Shan nickte, und die beiden Männer gingen über den Hof davon.
Der Abt schaute dem chandzoe mit regloser Miene hinterher, seufzte dann und wandte sich Shan zu. »Sie setzen voraus, daß Mörder lügen«, sagte er, als hätte er die Unterbrechung gar nicht bemerkt. »Dilgo würde niemals lügen. Das wäre eine Verletzung seiner Gelübde gewesen.«
»Also hat er den Mord tatsächlich verübt?« fragte Shan.
Der Abt antwortete nicht.
»Ein Mord hätte eine weitaus ernstere Verletzung seiner Gelübde dargestellt«, hob Shan hervor.
Der Abt trank seinen Tee aus und tupfte sich den Mund mit dem Ärmel seines Gewands ab. »Beides ist durch die 235 Regeln untersagt«, erklärte er und bezog sich dabei auf die Verhaltensmaßregeln, die für ordinierte Priester galten.
»Ich bin verwirrt«, sagte Shan. »Diejenigen, die ihre Gelübde verletzen, werden als niedere Lebensformen wiedergeboren. Wie Sie bereits gesagt haben, ist er nach Ihrer Überzeugung aber als Mensch zurückgekehrt.«
»Ich bin ebenfalls verwirrt. Was genau wollen Sie von uns?«
»Eine einfache Antwort. Glauben Sie, daß Dilgo den Direktor für Religiöse Angelegenheiten ermordet hat?«
»Die Regierung hat Gebrauch von ihrer Autorität gemacht. Dilgo hat keine Einwände erhoben. Der Fall wurde abgeschlossen.«
Weshalb überraschte ihn die Erkenntnis, dachte Shan, daß das Oberhaupt eines aufstrebenden gompa zugleich auch ein Politiker war? »Hat er es getan?«
»Jeder verfolgt einen anderen Weg zur Buddhaschaft.«
»Hat er es getan?«
Der Abt seufzte und blickte zu einer vorüberziehenden Wolke empor. »Eher würde der Berg Kailas unter dem Gewicht eines einzigen Vogels im Erdboden versinken, als daß Dilgo eine solche Tat verübt hätte.«
Shan nickte ernst. »Es hat sich noch ein solcher Vogel in die Lüfte erhoben.«
Der Abt sah ihm in die Augen. Er wirkte bekümmert.
»Denken Sie je darüber nach, woraus die Sünde besteht?« fragte Shan.
»Ich verstehe nicht.«
»Für die Regierung ist es einfach, denn auf diese Weise hält sie sich an der Macht. Die Gefahr ist ein Teil der Macht, so wie der Schatten zum Licht gehört. Manchmal, wenn keine Bedrohung existiert, muß eine erfunden werden. Und für Sie ist es genauso einfach, eine Rechtfertigung für das zu finden, was Dilgo widerfahren ist. Sie sind vermutlich zu dem Schluß gelangt, daß es ebenso in der Natur der Dinge liegt wie die Flutwelle von Soldaten, die 1959 über die Klöster hereingebrochen ist. Es war sein Schicksal, können Sie sagen, und außerdem wird Dilgo in ein besseres Leben geboren. Aber für alle anderen ist es nicht so einfach.«
Der Abt sah ihm nicht länger in die Augen.
»Haben Sie Dilgo ausgestoßen?«
»Nein.«
»Er wurde des Mordes überführt, aber Sie haben ihn nicht verstoßen. Statt dessen haben Sie für ihn die Bardo-Riten abgehalten.«