Der Abt schaute in seine Hände.
Shan zog den Notizblock zu Rate. »Man hat am Tatort einen Rosenkranz gefunden, einen ziemlich außergewöhnlichen Rosenkranz. Die Perlen waren wie winzige Kiefernzapfen geschnitzt und bestanden aus rosafarbener Koralle mit Anzeigerperlen aus Lapislazuli. Sehr alt. Muß aus Indien gestammt haben. Laut der Akte handelte es sich um ein Einzelstück, wie es nicht noch einmal vorkommt.«
»Das war sein Rosenkranz«, bestätigte der Abt. Seine Stimme wurde sehr leise. »Es war der ausschlaggebende Beweis gegen ihn.«
»Hat er erklärt, wie die Gebetskette dorthin gelangt war?«
»Er konnte es nicht erklären.«
»Hat er den Rosenkranz verloren?«
»Nein. Er hat ihn nicht einmal vermißt. Genaugenommen hat er gesagt, der Rosenkranz habe sich bei der Verhaftung, als man ihn schlafend von seinem Lager riß, noch in seinem Besitz befunden. Vielleicht war es ein Wunder, und die Kette ist irgendwie dorthin und wieder zurück transportiert worden. Dilgo hat gesagt, es sei womöglich eine Botschaft.«
»Warum hat er nicht protestiert?« fragte Shan. »Wieso hat er nichts zu seiner Verteidigung unternommen? Wenn Sie wußten, daß er unschuldig war, weshalb haben Sie ihn dann nicht verteidigt?«
»Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan.«
»Alles?« Langsam zog Shan die Akte aus der Leinentasche, die er bei sich trug, und ließ sie zwischen ihnen auf die Bank fallen. Er hatte die Aussage gelesen, die für den Abt vorbereitet worden war. Der Abt hatte die Gewalttat verurteilt und sich im Namen des gompa und der Kirche entschuldigt.
Der Abt starrte die Akte an und blickte dann auf, ohne zu blinzeln. »Alles.«
Es war nicht richtig von ihm, bei irgendeinem der Leute Schuldgefühle zu erwarten, erkannte Shan. Alle Beteiligten des Dramas um Dilgo, vom Abt bis zu Ankläger Jao, ja sogar bis zu dem Beschuldigten, hatten ihre Rollen einwandfrei gespielt.
Der Abt stand auf und wollte wieder zu seinem Unkraut zurückkehren.
»Dann verraten Sie mir bitte folgendes«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Haben Sie gehört, daß sich am Tatort ein buddhistischer Dämon befunden haben soll?«
Der Abt drehte sich stirnrunzelnd um. »Die alten Überlieferungen halten sich hartnäckig.«
»Demnach ist Ihnen tatsächlich ein solches Gerücht zu Ohren gekommen?«
»Immer wenn ein hoher Beamter stirbt, werden manche behaupten, irgendein Dämon oder Geist hätte Rache geübt.«
»Und auch über die betreffende Nacht hat es einen derartigen Bericht gegeben?«
»In jener Nacht war Vollmond. Ein Hirte hat behauptet, er habe auf einem Hügel oberhalb der Straße den pferdeköpfigen Dämon bei einer Art Tanz beobachtet. Den Dämon namens Tamdin. Unter den Kieseln, an denen der Direktor für Religiöse Angelegenheiten erstickt ist, hat sich auch eine Gebetsperle von einem Rosenkranz befunden. Sie hatte die Form eines Schädels, so wie Tamdin sie trägt.« Shan hatte selbst einen solchen Rosenkranz in der Hand gehalten. Den Rosenkranz eines Dämons.
»Die Einheimischen haben an der besagten Stelle einen Schrein errichtet, um ihren Beschützer zu ehren.«
Ein Tanz auf einem Hügel neben der Straße. Im Vollmond. Als wollte Tamdin gesehen werden, überlegte Shan.
»Auch nach den anderen Morden wurden Schreine gebaut. Es heißt, nach dem Mord an dem Direktor der Minen wäre Tamdin von einem Lastwagenfahrer gesehen worden. Wie ich schon sagte, es gibt immer solche Gerüchte, wenn ein Beamter stirbt. Tamdin ist bei den Leuten überaus beliebt, denn er gilt als wild und gnadenlos, wenn es um die Verteidigung der Kirche geht. Er ist ein sehr alter Dämon, einer von denen, die Landgötter genannt werden, und stammt aus der Zeit der alten tibetischen Schamanen noch vor den Tagen des Buddhismus. Auf ihrem Weg zu Buddha haben die Leute Tamdin mitgenommen.«
Von der anderen Seite des Hofs unterbrach sie plötzlich der Lärm zahlreicher Tiere. Man hatte ein Tor geöffnet, und eine große Hundemeute kam hereingelaufen. Die Priester fütterten die Hunde, mehr Hunde, als Shan jemals auf einem Fleck versammelt gesehen hatte. Er zählte mindestens dreißig Tiere, und es kamen immer noch neue durch das Tor herein.
Sergeant Feng fluchte und ließ sich neben Shan auf die Bank nieder, ohne die Hunde aus den Augen zu lassen. Drei große schwarze Mastiffs, wie sie von Hirten zum Schutz vor Wölfen benutzt wurden, beäugten die Männer mißtrauisch, als spürten sie, daß Feng und Shan Eindringlinge waren. Fengs Hand legte sich auf seine Pistole.
»Ai yi!« rief einer der Mönche, als er Fengs Reaktion bemerkte. Eilig stellte er sich vor die Hunde. »Die Tiere stehen unter unserem Schutz«, sagte er flehentlich. »Sie sind ein Teil von Khartok gompa. Sie kommen aus ganz Tibet her, um bei uns zu sein.«
»Verdammte Köter«, knurrte Feng. »Wo ich herkomme, landen die im Kochtopf.«
Der Mönch konnte sein Entsetzen nicht verbergen. »Sie sind ein Teil von uns. Diejenigen, die sich erinnern. Deshalb kommen sie her.«
»Erinnern?« fragte Shan.
»Priester, die gescheitert sind«, erklärte der Mönch. »Die Hunde sind Reinkarnationen von Priestern, die gegen ihre Gelübde verstoßen haben.«
Bei diesen Worten erschienen Yeshe und der chandzoe auf der Treppe. Von der anderen Seite des Hofs rief jemand ärgerlich etwas zu ihnen herüber. Der chandzoe legte Yeshe eine Hand auf die Schulter, als wolle er ihn beruhigen, während der Mönch, der noch immer auf den Stufen stand, sogleich wieder sein mudra auf Yeshe richtete.
Da endlich erkannte Shan das mudra. Es sollte Vergebung erweisen. Schaudernd überfiel ihn eine plötzliche Einsicht, und er musterte Yeshe, als sähe er ihn zum erstenmal. Er war so blind gewesen. Er hatte Yeshe alle möglichen Fragen gestellt, doch die wichtigste Frage hatte er ausgelassen.
Zwei Stunden später befanden sie sich an der höchsten Stelle des Passes, so daß sogar die Sterne am fernen Horizont unter ihnen lagen. Shan döste vor sich hin und wollte, daß das Gefühl, durch den Raum zu schweben, erst dann wieder aufhörte, wenn er eine Welt erreichte, in der Regierungen nicht logen, in der die Gefängnisse für Verbrecher bestimmt waren und in der niemand mit Kieseln ermordet wurde.
Von der Rückbank hörte er ein gleichmäßiges Klicken. Yeshe hatte eine Gebetskette.
Eine Stunde darauf bogen sie auf die Kreuzung am oberen Ende des Tals von Lhadrung ein. Shan legte Feng eine Hand auf den Arm. »Nach links.«
»Du hast wohl die Orientierung verloren, Genosse«, brummte Feng. »Zum Lager geht es nach rechts. Nur noch eine Stunde, und wir liegen im Bett.«
»Nach links, zur Baustelle der 404ten.«
»Das ist doch kilometerweit ab vom Schuß«, protestierte Feng.
»Da müssen wir hin.«
Feng hielt den Wagen hinter der Kreuzung an. »Bis wir dort ankommen, ist es beinahe Mitternacht. Da ist um diese Zeit nichts los.«
»Das erhöht die Chance.«
»Die Chance?«
»Den Geist zu treffen.«
Feng erschauderte. »Den Geist?«
»Ich will ihn fragen, wer ihn ermordet hat.«
Feng schaltete die Innenbeleuchtung ein und starrte Shan an, als würde er nach einem Anzeichen dafür suchen, daß diese Äußerung als Scherz gemeint war.
Shan erwiderte den Blick völlig regungslos. »Haben Sie Angst vor Geistern, Sergeant?«
»Verdammt richtig«, erwiderte Feng ein wenig zu laut. Er legte den Gang ein und drehte um.
Einen knappen Kilometer vor der Brücke wies Shan den Sergeanten an, das Licht auszuschalten. Als sie neben der Brücke langsam zum Stillstand kamen, war auf der Baustelle der 404ten nicht das geringste zu entdecken. Feng stieg aus und zog sofort seine Pistole. Shan sagte nichts, sondern machte sich zu Fuß in Richtung des Bergs auf den Weg. Nach dreißig Schritten drehte er sich um und sah, daß Feng den Wagen umkreiste, als wäre er zu dessen Bewachung eingeteilt.