Am Ende von Tans Brücke blieb Shan stehen und schaute zum Himmel empor. Die Sterne flößten ihm nach wie vor Ehrfurcht ein. Er fürchtete, er würde sie berühren können, wenn er die Hand ausstreckte. Seine Knie zitterten.
Er folgte dem Straßenbett bis zu dem kleinen Steinhaufen, der die Fundstelle von Jaos Leiche markierte, und setzte sich auf einen Felsen. Es war beinahe windstill. Genau jetzt würde der jungpo umgehen. Genau jetzt würden die Schutzdämonen zuschlagen. Seine Hand legte sich auf die Tasche mit dem Zauber, der ihn vor Tamdin beschützen sollte. Wie hatten die Worte aus Khordas Schädelmantra gelautet? Om padme te krid hum pbat.
Hinter ihm bewegte sich ein Kiesel. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als neben ihm ein Schatten auftauchte. Es war Yeshe.
»Es ist in einer Nacht wie dieser passiert«, stellte Shan fest und versuchte sich zu beruhigen. »Ankläger Jao wurde zu der Brücke gefahren. Jemand war hier. Jemand, den er kannte.«
»Das habe ich nie verstanden. Wieso hier?« fragte Yeshe. »Es ist so weit weg von allem.«
»Genau das ist der Grund. Die Straße führt nirgendwohin. Keine Gefahr, von zufälligen Passanten entdeckt zu werden. Einfach wieder zu verlassen.« Aber das war nicht alles. Der Berg hatte sein Geheimnis noch immer nicht preisgegeben.
»Also sind Jao und der andere zu Fuß hergekommen«, sagte Yeshe. »Um die Sterne zu betrachten?«
»Um zu reden. Unter vier Augen. Jemand ist unten zurückgeblieben.«
»Der Fahrer.«
»Ich bin hier mit Jao«, sagte Shan und versetzte sich in die Lage des Mörders, der Jao auf den Berg gelockt hatte. »Ich habe ihn hergebracht, um ihm angeblich ein Geheimnis anzuvertrauen. Aber etwas hat ihn plötzlich aufhorchen lassen. Ein loser Fels. Das Klirren von Metall. Er hat den Angreifer in letzter Sekunde bemerkt und fährt herum, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, lange genug, daß Jao eine Verzierung von dem Kostüm abreißen kann.« Shan stand mit einem Stein in der Hand auf, um die Szene nachzuspielen. »Dann greife ich mir einen Stein und schlage von hinten zu.« Er warf den Stein kraftvoll zu Boden. »Ich lege Jao sorgfältig zurecht, nachdem ich seine Taschen von allem geleert habe, das ihn identifizieren könnte.
Jetzt benutzt Tamdin seine Klinge.«
»Demnach gibt es zwei Mörder.«
»Ich bin inzwischen dieser Ansicht. Jao ist nicht mit jemandem hergekommen, der ein Dämonenkostüm getragen hat. Er kam in Begleitung eines Freundes, der den Dämon hier im Hinterhalt lauern ließ.« Shan trat einen Schritt zurück und wechselte wieder die Rolle. »Ich will nicht dabei zusehen.« Shan ging auf den Rand der Klippe zu. »Ich will nicht mit Blut besudelt werden. Ich gehe hier zur Kante und werfe weg, was ich ihm aus den Taschen genommen habe.« Er nahm einen Stein, trat an den Rand des Abgrunds, streckte den Arm aus und ließ den Stein fallen.
»Sie haben mir erzählt, warum man Sie von der Universität zurückgeschickt hat«, sagte Shan kurz darauf und schaute weiterhin ins Leere. »Aber Sie haben nie erzählt, warum Sie überhaupt erst auf die Universität gegangen sind.« Ermittlungen, fromme Betrachtungen, Karrieren, Beziehungen - irgendwie war sich das alles ziemlich ähnlich, überlegte er. Es ging schief, weil niemand daran dachte, die richtige Frage zu stellen.
Shan spürte, daß Yeshe auf ihn zukam, und trat ganz nach vorn an die Kante, bis seine Zehen hinaus in die Finsternis ragten.
»Es war eine Ehre, an die Universität gebeten zu werden«, sagte Yeshe mit hohler Stimme.
Ein winziger Stoß, eine leichte Bö, mehr würde nicht nötig sein. Yeshe könnte einfach nur stolpern und gegen Shan fallen, und er würde hinabstürzen. In einer Nicht wie dieser schlug man vielleicht nie auf dem Erdboden auf. Da würde nur Finsternis sein und dann eine noch tiefere Schwärze.
»Aber warum sollte man Yeshe Retang eine solche Gunst erweisen? Einem unbekannten Mönch aus einem entlegenen gompa!«
Yeshe trat neben ihn, als wolle er das gleiche Risiko wie Shan eingehen.
»Man hat in Khartok erst nach Ihrer Abreise mit dem Wiederaufbau begonnen«, hob Shan hervor. »Der chandzoe hat Sie wie einen Helden willkommen geheißen. Als würde er Ihnen etwas schuldig sein. Als hätte Khartok nach Ihrem Weggang Begünstigungen erhalten.«
»Ich habe meiner Mutter versprochen, Mönch zu werden«, sagte Yeshe zu den Sternen. »Ich war der älteste Sohn. So war die Tradition in den tibetischen Familien, bis Peking kam. Dem ältesten Sohn würde die Ehre zuteil werden, in einem Kloster zu dienen. Doch ich war kein guter Mönch. Der Abt sagte, ich dürfe nicht so stolz sein. Er wies mir eine Aufgabe in den Dörfern zu, damit ich das Leid des Volkes sehen würde. Zweimal in der Woche brachte ich mit einem Wagen kranke Kinder ins gompa.«
Hinter ihnen am Abhang ertönte der Schrei eines Ziegenmelkers.
»Er lag einfach da, neben der Straße. Ich dachte, ich könnte ihn retten. Ich dachte, ich könnte ihm vielleicht auf den Rücken klopfen, damit er die Kiesel aus dem Hals bekommt und wieder atmen kann. Ich habe es versucht. Aber er war bereits tot.«
»Soll das heißen, Sie haben die Leiche des Direktors für Religiöse Angelegenheiten gefunden?«
»Ich habe nie begriffen, warum er ganz allein dort oben war«, flüsterte Yeshe.
»Und Dilgo aus Ihrem gompa wurde deswegen hingerichtet.« Shan erinnerte sich daran, daß in den Akten einige Seiten fehlten. Zeugenaussagen.
»Als ich ihn umdrehte, lag er da. Ich habe ihn sofort erkannt.«
»Den Rosenkranz, der Dilgo gehört hat?«
Yeshe antwortete nicht.
»Demnach haben Sie als Zeuge gegen ihn ausgesagt.«
»Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich habe einen toten Chinesen gefunden. Unter dem Mann lag Dilgos Rosenkranz.«
Die Parabel war absolut perfekt. Ein gesellschaftsfeindlicher Kultanhänger wird durch die Aussage eines Mitglieds der neuen Gesellschaft überführt, das zudem noch demselben Kloster angehört. Ein Beweis dafür, wie bösartig die alte Ordnung war und wie tugendhaft die neue sein konnte. »Und zur Belohnung hat man Sie auf die Universität geschickt.«
»Wie konnte ich ablehnen? Wie oft wird einem Mönch denn schon die Universität angeboten? Sie sagten, es sei keine Belohnung. Sie sagten, mein Verhalten habe lediglich gezeigt, daß ich auf eine Universität gehöre, daß ich eine Führungspersönlichkeit sei, die schon längst dort hätte sein müssen.«
»Wer hat Ihnen dazu verhelfen?«
»Ankläger Jao, das Büro für Religiöse Angelegenheiten, die Öffentliche Sicherheit. Sie alle haben das Papier unterzeichnet.«
Das sagte nichts darüber aus, wer Jao ermordet hatte oder wer vielleicht erneut versuchte, Yeshe zu manipulieren. Die Bewilligung derartiger Belohnungen ging absolut konform mit den üblichen Praktiken des chinesischen Justizapparats. Vielleicht hatte jemand Yeshe benutzt, weil er wußte, daß der Mönch regelmäßig diese Strecke fuhr. Vielleicht war Yeshes Verwicklung in den Fall auch völlig zufällig erfolgt. Es kam einzig und allein darauf an, daß Yeshe sich als anfällig entpuppt hatte, und gegenwärtig versuchte jemand, ihn auf die gleiche Weise zu beeinflussen. Nicht Zhong. Direktor Zhong war lediglich ein Handlanger, der dabei mithalf, Yeshes Arbeit für ein weiteres Jahr sicherzustellen.
»Ich habe es vorher gesagt«, merkte Yeshe an, als sei ihm ein nachträglicher Einfall gekommen.
»Vorher?«
»Man hat mir die Universität erst lange nach meiner Aussage angeboten.«
»Ich weiß.«
»Es hieß, man würde das tun, weil ich mich als guter Bürger erwiesen hätte.« Er flüsterte wieder. »Leider weiß ich nicht mehr, was das bedeutet - ein guter Bürger zu sein«, fügte er unglücklich hinzu.
Während sie die Sterne beobachteten, schien durch ihr Schweigen der Schmerz zu entweichen.