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»Nach unserem Besuch im Büro für Religiöse Angelegenheiten«, sagte Yeshe, »nachdem Miss Taring gesagt hatte, daß immer noch Artefakte gefunden werden und in den Museen landen, habe ich mich etwas gefragt. Was wäre, wenn jemand noch so einen Rosenkranz wie den von Dilgo gefunden hätte? Was wäre, wenn ich gelogen hätte, ohne es zu wissen?«

Shan legte Yeshe eine Hand auf den Arm und zog ihn sanft vom Rand der Klippe zurück. »Dann müssen Sie es herausfinden.«

»Weshalb?«

»Für Dilgo.«

Sie setzten sich auf einen Felsblock und ließen sich erneut von der Stille gefangennehmen.

»Glauben Sie, daß es wahr ist, was man sich erzählt?« fragte Yeshe.

»Was denn?«

»Daß Jaos Geist hierbleibt und nach Rache trachtet.«

»Ich weiß es nicht.« Shan sah hinaus in die Nacht. »Falls meine Seele freikäme«, sagte er langsam, »würde ich niemals zurückblicken.«

Sie wechselten kein weiteres Wort. Shan hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort saßen. Es konnten zehn Minuten gewesen sein, vielleicht aber auch eine halbe Stunde. Eine Sternschnuppe schoß strahlend über den Himmel. Dann ertönte genauso plötzlich ein lautes Geräusch, ein verzerrtes, gespenstisches Stöhnen und Schreien, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Es kam von irgendwo unter ihnen und schien sich durch die Haut über seiner Wirbelsäule zu bohren. Es war kein menschliches Geräusch.

Auf einmal krachten drei Pistolenschüsse. Dann herrschte absolute Stille.

Kapitel 10

Die zwei Soldaten stürzten sich wie im Traum auf ihn, packten ihn im Dunkeln, während er schlief, zerrten ihn aus dem Bett und legten ihm Handschellen an. Wortlos stießen sie ihn in den Wagen. Sie antworteten nicht auf seine ersten beiden Fragen und verabreichten ihm nach der dritten einen heftigen Schlag ins Gesicht. Shan richtete sich mühsam auf, kämpfte gegen den Schmerz an und rief sich ins Gedächtnis, worauf er achten mußte. Die Männer gehörten nicht zur Öffentlichen Sicherheit, sondern zur Infanterie. Soldaten mußten sich viel häufiger an Vorschriften halten. Er saß in einem Personenwagen, nicht in einem Laster. Man würde ihn nicht im Fahrzeug erschießen. Sie fuhren ins Tal hinaus, nicht in die Berge, wo man normalerweise Leute verschwinden ließ. Er lehnte sich gegen die Scheibe und ließ das Glas das Gewicht seines Kopfes tragen, während er beobachtete, wohin sie ihn brachten.

Es war die Kreuzung unterhalb der Drachenklauen. Oberst Tans Silhouette hob sich gegen den trübgrauen Himmel ab. Die beiden Soldaten zerrten ihn zu Tan, nahmen ihm die Handschellen ab und kehrten zum Wagen zurück, wo sie stehenblieben und sich Zigaretten anzündeten. Einer der Männer murmelte etwas. Der andere lachte.

»Er hat gesagt, daß du das tun würdest«, sagte Tan. »Zhong hat gesagt, du würdest dich über mich lustig machen und versuchen, mich zu benutzen.«

»Sie müssen schon etwas genauer werden«, murmelte Shan, der noch immer vom Schmerz benebelt war. »Ich habe nur drei Stunden geschlafen.«

»Aufhetzung der Separatisten. Verabredung zur Störung der öffentlichen Sicherheit. Hinterhältiger Angriff auf einen Soldaten.«

Shan bemerkte ein leises schnarrendes Geräusch. Hinter Tans Auto erkannte er einen vertrauten grauen Geländewagen. Die Klappe zum Laderaum stand offen, und die beiden gestiefelten Füße einer schlafenden Gestalt waren zu sehen.

»Ist es das, was Sergeant Feng Ihnen erzählt hat?« Shans Kiefer fühlte sich taub an. »Daß er aus dem Hinterhalt angegriffen wurde?« Er berührte seine Lippe. Als er die Finger wieder wegnahm, waren sie blutverschmiert.

»Er hatte den Befehl, mich letzte Nacht anzurufen, sobald er zurückkehrte. Er hat mich geweckt. Völlig außer sich. Hat um Verstärkung gebeten. Sagte, man solle dich der Öffentlichen Sicherheit übergeben.« Tan schaute nach Norden. Eine Lastwagenkolonne näherte sich.

»Vielleicht hat er vergessen, Ihnen zu erzählen, wie er einen der Reifen zerschossen hat«, sagte Shan. »Oder wie er auf das Dach des Wagens geklettert ist und nicht wieder heruntersteigen wollte. Oder daß ich zurückfahren mußte, weil er zu hysterisch dafür war.«

Die Kolonne fuhr an ihnen vorbei. Shan erkannte sie sofort, obwohl es doppelt so viele Laster wie sonst waren. Die zusätzlichen Transporter waren voller Kriecher. Verzweifelt blickte Shan den Wagen hinterher. Sie würden zur Südklaue fahren. Die Kriecher würden ihre Maschinengewehre aufstellen. Die Gefangenen würden auf den Hang steigen, sich hinsetzen, ihre primitiven Rosenkränze durch die Finger gleiten lassen und warten.

Als der Staub der Kolonne sich legte, sah Shan, daß zwei der Wagen angehalten hatten. Ein Dutzend unerbittlich wirkender Soldaten sprang von einem der Laster und stellte sich in zwei Reihen hinter dem anderen Transporter auf. Ein tibetischer Häftling wurde aus dem Halbdunkel gestoßen und landete zwischen den Reihen. Er stöhnte vor Schmerz. Die anderen stiegen langsam aus. Shan bemerkte, daß Tan nicht etwa die Sträflinge, sondern ihn anschaute.

Die Gefangenen, insgesamt fünfzehn an der Zahl, mußten sechs oder sieben Meter weit ins Heidekraut stapfen und sich dort in einer Reihe aufstellen. Zwei Offiziere der Kriecher tauchten mit Maschinenpistolen hinter dem Wagen auf und bezogen vor den Mönchen auf der Straße Position.

»Nein!« klagte Shan. »Sie können doch nicht...«

»Ich bin dazu befugt«, unterbrach Tan ihn mit eisiger Stimme. »Der Streik ist ein Akt des Verrats.«

Shan torkelte vor. Das war lediglich einer seiner Alpträume, sagte er zu sich selbst. Jeden Moment würde er in seinem Bett aufwachen. Er stolperte und fiel hin. Ein Stück Schotter bohrte sich schmerzhaft in sein Knie. Er war wach. »Die Männer haben nichts getan«, stöhnte er.

»Sie werden mit Ihrem Versteckspiel aufhören. In einer Woche wird auf meinem Tisch ein Ermittlungsbericht zur Anklageerhebung gegen den Mörder Sungpo liegen.«

Die Häftlinge begannen ein Mantra. Ihre Augen schauten über die Köpfe der Scharfrichter hinweg auf die Berge.

Tan wandte den Blick noch immer nicht von Shan ab.

Shan hatte das Gefühl, er könnte seine Zunge nicht bewegen. Er kämpfte gegen eine aufsteigende Übelkeit an. »Ich werde Ihnen nicht dabei helfen, einen Unschuldigen zu töten«, würgte er mit heiserer Stimme hervor. Er schüttelte heftig den Kopf, um die Schmerzen loszuwerden, und sah mit neuer Stärke zu Tan auf. »Falls es das ist, was Sie wollen, bitte ich darum, mich diesen Gefangenen anschließen zu dürfen.«

Tan reagierte nicht.

Die Offiziere luden ihre Waffen durch. Shan sprang vor. Jemand packte ihn von hinten und hielt ihn fest. Im selben Moment eröffneten die Schützen das Feuer. Das Dröhnen der Waffen hallte im Tal wider.

Als der Pulverdampf sich lichtete, lagen drei der Sträflinge schluchzend auf den Knien. Die anderen starrten unverwandt in die Ferne und sagten ihr Mantra auf.

Die Kriecher hatten Platzpatronen benutzt.

»Du hast an der Südklaue einen Sicherheitsverstoß begangen!« herrschte Tan ihn an. »Wer hat dich dazu ermächtigt, ein Sperrgebiet zu betreten?«

Jetzt erwiderte Shan den Blick des Oberst. »Ihr Ermittler hat keinen Zutritt zum Tatort mehr?«

»Du hast gesagt, du würdest zu Sungpos Kloster fahren.« Tans Augen verengten sich. »Ein Bericht zur Anklageerhebung gegen den Beschuldigten. Hast du mich verstanden?«

»Grausamkeit kann niemals verstanden, sondern nur erduldet werden.« Shan schloß die Augen. Er spürte etwas Neues in sich aufsteigen: Wut. »Li Aiding wird meine Notizen zweifellos zu schätzen wissen. Ich werde einem dieser Offiziere der Öffentlichen Sicherheit sagen, daß ich mit Li sprechen muß. Und dann steige ich in diesen Lastwagen«, er wies auf das Fahrzeug der Gefangenen, »und kehre zu meiner Arbeitskolonne zurück.«

Tan zündete sich eine seiner amerikanischen Zigaretten an und ging schweigend um Fengs Wagen herum. Am rechten Hinterrad blieb er stehen. Die Radkappe fehlte, und der Reifen paßte nicht zu den anderen. »Erzähle mir davon«, knurrte er, als er zu Shan zurückkehrte.