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Während Shan sprach, schaute er zu, wie die Gefangenen wieder in den Laster geladen wurden. »Ich war auf dem Hang und habe versucht zu verstehen, was in jener Nacht vorgefallen ist. Vielleicht war die genaue Zeit von Bedeutung, die Stunde, zu der er getötet wurde. Ich wollte es herausfinden. Es gab ein merkwürdiges Geräusch, wie von einem großen Tier, und dann Schüsse aus Richtung des Wagens. Ich lief nach unten. Sergeant Feng sagte, da sei ein Dämon gewesen.«

»Dein Dämon Tamdin«, warf Tan ein.

»Feng war hysterisch. Er sagte, der Dämon sei ganz in der Nähe und er habe ihn sprechen gehört. Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht und um seine Pistole gebeten.«

Tan grinste höhnisch. »Und Sergeant Feng hat sie dir einfach so ausgehändigt.«

»Später im Lager habe ich sie ihm zurückgegeben.«

»Ich glaube dir nicht.«

Shan suchte in seiner Tasche herum. »Ich habe die übrigen Kugeln behalten, um sicherzugehen.« Er ließ fünf Patronen in Tans Hand fallen.

Tan starrte die Kugeln so lange an, daß seine Zigarette ihm die Finger verbrannte. Er zuckte zusammen und warf den Stummel wütend zu Boden. Dann schaute er der Staubfahne der Lastwagen hinterher. »Alles geht den Bach runter«, murmelte er, allerdings so leise, daß Shan sich nicht sicher war, ob er die Worte richtig verstanden hatte.

Als Tan sich wieder zu ihm umwandte, lag etwas Neues im Blick des Oberst, etwas, das Shan bislang noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Ein winziger Hauch von Unsicherheit. »Es dreht sich alles um dieselbe Sache, nicht wahr? Sowohl der Streik der 404ten als auch der Prozeß gegen Sungpo. Es wird ein Blutbad geben, und ich kann nichts tun, um es zu verhindern.«

Shan sah ihn überrascht an. »Wollen Sie es denn verhindern? Sind Sie wirklich gewillt, es zu verhindern?«

»Was glaubst du, wer ich..«, setzte Tan an, hielt jedoch inne und schaute auf die Patronen hinunter. »Feng hatte Angst. Er und ich dienen schon seit vielen Jahren zusammen. Er ist nur deshalb nach Lhadrung gekommen, weil ich auch hier war. Ich habe ihn noch nie ängstlich erlebt.« Tan ballte die Faust um die Kugeln und blickte auf. »Jao hat es verstanden. Bei unseren Kritiksitzungen pflegte er zu sagen, mein einziger Fehler sei, daß ich glauben würde, die alten Methoden würden auch in Tibet zu den gleichen alten Resultaten führen.«

»Alte Methoden haben sich hier nicht sonderlich gut bewährt.«

Tan blickte in Richtung der Baustelle und seufzte. »Ich werde Zhong anweisen, den Leuten wieder Proviant zukommen zu lassen. Er soll der buddhistischen Wohlfahrtsorganisation gestatten, sie einmal am Tag mit Nahrung zu versorgen.«

Shan sah ihn ungläubig an und nickte dann langsam. »Das wäre gut.«

»Die Amerikaner kommen«, sagte Tan geistesabwesend und schaute dann wieder zu Shan. »Du blutest.«

Shan wischte sich noch einmal das Blut von der Lippe. »Es ist nichts.«

Tan streckte ihm ein Taschentuch entgegen.

Shan starrte es verblüfft an.

»Ich habe nicht angeordnet, daß man dich schlagen soll.«

Shan nahm das Tuch und drückte es gegen den Mund. Sergeant Feng kam aus dem Laderaum des Geländewagens gekrochen, streckte sich und gähnte. Als er Tan sah, zuckte er im ersten Moment zurück, als wolle er sich verstecken. Dann richtete er sich kerzengerade auf und ging ernst auf den Oberst zu.

Sein Blick irrte unbeholfen von Shan zu Tan. »Ich erbitte die Zuweisung einer neuen Aufgabe, Sir«, sagte er und richtete den Blick auf seine Stiefelspitzen.

»Aus welchem Grund?« fragte Tan barsch.

»Weil ich ein alter Narr bin. Ich habe meine Pflicht nicht aufmerksam genug erfüllt, Sir.«

»Genosse Shan«, sagte Tan, »hat Sergeant Feng es letzte Nacht irgendwann an Aufmerksamkeit mangeln lassen?«

»Nein, Oberst«, erwiderte Shan. »Sein einziger Fehler hat darin bestanden, daß er vielleicht ein bißchen zu aufmerksam gewesen ist.«

Tan wollte Feng die Patronen zurückgeben, doch dann überlegte er es sich anders und reichte sie Shan, der sie wiederum an Feng aushändigte. »Kehren Sie an Ihre Aufgabe zurück, Sergeant«, befahl Tan.

Sergeant Feng nahm die Kugeln verlegen entgegen. »Ich hätte es wissen sollen«, murmelte er. »Einen Dämon kann man nicht erschießen.« Er salutierte vor dem Oberst und machte kehrt.

Tan schaute abermals der Staubfahne der Kolonne hinterher. »Es bleibt zu wenig Zeit.«

»Dann helfen Sie mir. Es gibt so viel zu tun. Ich muß noch einmal versuchen, mit Sungpo zu sprechen. Außerdem muß ich Jaos Fahrer finden. Helfen Sie mir. Er ist der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit.«

»Er hat keine der Schalen angerührt. Nicht ein Reiskorn«, verkündete der Wachposten, als Shan den Zellenblock betrat. Er klang seltsam stolz, als stelle das Hungern seines Gefangenen irgendeinen persönlichen Sieg für ihn dar. »Nichts außer Tee.«

Sungpo schien sich nicht bewegt zu haben, seit Shan ihn drei Tage zuvor gesehen hatte. Er saß aufrecht und munter da und starrte immer noch in die Ferne.

»Mein Assistent«, sagte Shan und schaute sich im Arrestlokal um. »Ich dachte, er wäre hier.«

»Er ist bei dem anderen.«

»Sie haben einen neuen Gefangenen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Der Kerl ist über den Zaun geklettert. Hat mächtig Glück gehabt. Zehn Minuten früher oder später hätte die Streife ihn erwischt und erschossen.«

»Ein Ausbrecher?«

»Nein, das ist ja der Witz. Er hat versucht, hier einzudringen. Man mußte ihm beibringen, daß Zivilisten keinen ungehinderten Zutritt zu Militäranlagen haben.«

Shan fand Yeshe im Nachbargebäude. Er wusch ein Handtuch in einer Schale mit blutig verfärbtem Wasser aus. Shan schaute ihm einen Moment lang zu und bemerkte, daß sich in Yeshes Miene etwas verändert hatte. Der Tibeter wirkte ruhiger. Nicht so, als hätte er Seelenfrieden gefunden, sondern eher, als ginge er nun bedachtsamer zu Werke.

Shan folgte Yeshe in das Verhörzimmer. Zuerst erkannte er nicht, wer dort am Tisch saß. Das Gesicht des Mannes wirkte auf einer Seite wie eine Melone, die von einem schnell fahrenden Lastwagen gefallen war.

»Ziemlich gut, was?« sagte der Mann und hob grüßend eine der großen, tatzenartigen Hände. »Er hat nach mir geschickt. Und ich habe ihn gefunden.«

Es war Jigme.

»Was soll das heißen, er hat nach Ihnen geschickt?«

»Sie sind doch zu mir gekommen, nicht wahr?«

»Wie konnten Sie so schnell hier sein? Sind Sie mit dem Auto gefahren?«

Irgendwie gelang es Jigme, mit den geschwollenen Augen zu zwinkern. »Ich fliege durch die Luft. Wie die Alten. Der Pfeilzauber.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Shan. »Ich kann mich aber auch daran erinnern, auf der Straße, die aus Ihrem Tal führt, mehrere Lastwagen gesehen zu haben.«

Jigme wollte lachen, aber das Geräusch glich eher einem heiseren, abgehackten Husten.

Shan und Yeshe halfen ihm auf die Beine, legten sich jeder einen seiner Arme über die Schultern und beförderten ihn halb zerrend, halb tragend aus dem Gebäude. Auf der Treppe wurden sie von einem wütenden Offizier aufgehalten.

»Diese Gefangenen unterstehen der Aufsicht der Öffentlichen Sicherheit!« brüllte der Offizier.

»Dieser Mann ist Teil meiner Ermittlungen«, entgegnete Shan ungerührt und wandte dem Offizier den Rücken zu. Sobald sie den Zellenblock betreten hatten, machte Jigme sich von ihnen los und zog seine Kleidung zurecht. Er humpelte allein den Korridor hinunter und fiel mit einem Aufschrei der Verzückung auf die Knie, als er die letzte Zelle erreichte.

Der Wachposten an der Zellentür stand protestierend auf. Shan gebot ihm mit einer Geste Einhalt und wies ihn an, die Zelle zu öffnen.