Sungpo begrüßte Jigme mit einem Nicken, das dessen zerschlagenes Gesicht aufleuchten ließ. Das gompa-Waisenkind schloß die Tür hinter sich und musterte die unberührten Schalen mit Reis. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung«, sagte er mit einem dankbaren Lächeln zu Shan.
»Wir müssen mit ihm sprechen.«
Jigme schien zu glauben, Shan habe einen vortrefflichen Witz gemacht. »Aber sicher.« Er lächelte. »In zwei Jahren, einem Monat und achtzehn Tagen.«
»Soviel Zeit bleibt ihm nicht.«
Jigmes Gesicht verdüsterte sich. Er nahm eine der Reisschalen und ging zurück zu Sungpo. Mit kleinen, liebevollen Gesten begann er, das Stroh von Sungpos Gewand abzustreifen.
»Wir müssen unbedingt mit ihm reden«, wiederholte Shan.
»Glauben Sie, er hat Angst davor, ein Gesicht abzuwerfen?« rief Jigme auf einmal trotzig. »Ihr Leute aus dem Norden, ihr seid eine Fliege auf seiner Schulter.« Shan sah, daß Jigme bei diesen Worten eine Träne über die Wange rollte. »Er ist ein großartiger Mann. Ein lebender Buddha. Er wird ganz leicht sterben, ohne Mühen. Er wird dieses Gesicht abwerfen und im nächsten Leben über uns alle lachen.«
Sie saßen in einem unbenutzen Marktstand im hinteren Teil des Platzes und beobachteten den Laden des Zauberers. Niemand ging hinein oder hinaus. Der Markt begann sich mit Verkaufskarren zu füllen, auf denen sich Frühlingsgemüse, junge Senfblätter und manch andere Pflanzen türmten, die woanders auf der Welt als Unkraut gegolten hätten.
Feng, der nach der vergangenen Nacht noch immer nervös war, fuhr mit der Handfläche über den Kolben seiner Pistole.
»Ich brauche fünfzig Fen«, sagte Shan.
»Wer nicht?« erwiderte Feng.
»Für Essen. Haben Sie etwas Geld übrig?«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Wir haben kein Frühstück bekommen. Sie schon.«
Die Bemerkung schien Feng einen Stich zu versetzen, und Shan fragte sich, ob er noch immer wegen seines Spitznamens gekränkt war. Fengs Blick irrte zwischen Shan und Yeshe hin und her. »Einer von euch bleibt hier.«
Yeshe verstand den Wink und lehnte sich an die Wand zurück, als wolle er es sich gemütlich machen.
Shan streckte die Hand aus und nahm das Geld.
Feng machte eine unbestimmte Geste in Richtung der Marktstände vor ihnen. »Fünf Minuten.«
Shan verweilte kurz bei einem Stand, der Schreibwaren feilbot, und entdeckte dann eine Frau, die momos verkaufte. Er erstand zwei davon für Yeshe, kehrte dann zum ersten Händler zurück und kaufte eilig zwei Blätter Reispapier, einen Schreibpinsel und einen kleinen Tintenstift.
»Der erste Zauberspruch wurde vor ein paar Tagen erbeten«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Shan wollte sich umdrehen. Ein Ellbogen stieß ihn an. »Nicht hinsehen«, sagte der Mann.
Shan erkannte die Stimme. Es war der purba mit dem Narbengesicht. Als Shan nach unten blickte, sah er zerlumpte Filzstiefel hinter sich. Der Mann war als Hirte verkleidet.
»Diese Leute sind immer auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit«, sagte der purba über Shans Schulter hinweg. »Zauberer wie Khorda nehmen ihnen das Geld ab. Sie haben immer Geld. Für Leute ihres Schlages laufen die Geschäfte stets gut.«
»Ich verstehe nicht.«
»Diese Frau arbeitet in einer Buchhandlung. Sie hat vor etwa einer Woche nach dem Tamdin-Zauber gefragt. Gestern hat sie um einen Bannspruch gegen Hundebisse gebeten.«
»Sie?«
»Die Tochter eines Fleisch-Affen.«
»Ein ragyapa?«
»Straße des grünen Bambus«, lautete die Antwort.
Shan drehte sich um. Der purba war verschwunden.
Zwanzig Minuten später standen Shan und Sergeant Feng am Rand der ausgedienten Schotterstraße im Nordteil der Stadt und beobachteten Yeshe dabei, wie er die Buchhandlung auf der anderen Seite betrat. Im Innern des Ladens war kurz eine kleine, dunkelhäutige Frau zu sehen. Als Yeshe sie ansprach, wies sie auf den rückwärtigen Teil des Geschäfts und ließ den Blick nach links und rechts über die Straße schweifen, bevor sie die Tür schloß.
Weitere zehn Minuten später kam Yeshe aus dem Laden geeilt. Sein Gesicht schimmerte triumphierend. »Sie ist da«, verkündete er. »An der Tür, das war sie. Sie behauptet, sie würde aus Shigatse stammen, aber das stimmt nicht.« Er sagte, er habe nach dem Eigentümer gefragt und erklärt, er sei zu einer unangemeldeten Kontrolle der Arbeitspapiere erschienen. Als der Mann ihm nicht glauben wollte, hatte Yeshe aus dem Fenster gewiesen. Der Anblick eines offiziell wirkenden Wagens mit einem Soldaten am Steuer hatte den Mann sogleich seine Geschäftslizenz und die Arbeitspapiere des Mädchens hervorholen lassen. »Demnach ist sie vor knapp einem Jahr aus Shigatse hergekommen. Doch auf dem Weg nach draußen habe ich sie gefragt, ob sie in Shigatse auch so gern auf die Mauern der alten Festung gestiegen sei. Ja, antwortete sie, und sie habe dort öfter gepicknickt.«
»Es gibt dort noch immer eine Festung?« fragte Shan.
»Eine Festung, in Tibet? Natürlich nicht, die Kommunisten haben sie vor vierzig Jahren in die Luft gesprengt!« Er legte bei diesen Worten die Hände aneinander und riß dann die Arme hoch, als wolle er die Explosion anschaulich machen. »Es gibt keine Mauern mehr.«
»Also kommt sie nicht aus Shigatse.«
»Unmöglich. Sie wohnt hinten im Laden, aber der Eigentümer sagt, daß sie fast jedes Wochenende nicht da ist. Eine Verkäuferin dürfte wohl kaum genug verdienen, um so häufig dreihundert Kilometer nach Shigatse zu reisen.«
»Dann lebt ihre Familie in der Nähe«, sagte Shan. Eine Familie von Ausbeinern. In den Bergen. Wo auch Tamdin der Ausbeiner lebte. »Und dort bringt sie auch die Zaubersprüche hin.« Er sah Yeshe erwartungsvoll an.
Yeshes Gesicht verfinsterte sich. »Nein«, protestierte er schwach.
»Ihr Zuhause dürfte nicht schwierig zu finden sein«, behauptete Shan. »In Lhadrung besteht eine lebhafte Nachfrage nach dem Tod.«
Tan reichte ihm mehrere Blätter Papier, die von einer Büroklammer zusammengehalten wurden. »Ich habe sie gefunden«, sagte er mit der Heiterkeit, von der ein Erfolgserlebnis begleitet wird.
»Wen?«
»Miss Lihua. Ankläger Jaos Sekretärin. Auf Urlaub in Hongkong. Das Justizministerium hat ihr Hotel ausfindig gemacht. Sie ist zum örtlichen Büro des Ministeriums gegangen und hat das dortige Faxgerät benutzt. Sie gibt an, der stellvertretende Ankläger Li habe sie zum Flughafen gefahren, bevor Jao aufgebrochen ist, um mit der Amerikanerin zu Abend zu essen. Ich kenne sie. Jung, sehr pflichtbewußt. Gutes Gedächtnis für Einzelheiten. Sie hat mir Jaos Terminplan durchgegeben, ebenso die Anrufe am Tag des Mordes. Sie hat alles gefaxt. Niemand hat wegen eines Treffens angerufen.«
Miss Lihua fühle sich geehrt, dem Oberst behilflich sein zu können, stand auf der ersten Seite geschrieben. Der Tod von Genosse Ankläger Jao habe sie zutiefst bekümmert, und sie biete an, sofort zurückzukehren. Tan hatte das Angebot abgelehnt, vorausgesetzt, sie würde per Fax kooperieren.
»Wußte sie, wie man den Fahrer ausfindig machen kann?« fragte Shan.
»Sie hat mir gesagt, wo er wohnt. Und sie hat gesagt, sie sei sich ganz sicher, daß niemand, den Jao kannte, ein Treffen an der Südklaue anberaumt habe.«
»Wie kann sie das wissen?« entgegnete Shan. »Sie hätte einen entsprechenden Anruf doch gar nicht bemerkt.«
»Jao war ein spießiger alter Hund. Er hat Anrufe niemals persönlich entgegengenommen. Und alles mußte im voraus geplant werden, oder es konnte nicht stattfinden. Miss Lihua hat über jede einzelne Stunde Buch geführt. Er sei den ganzen Tag im Büro gewesen, hat sie gesagt. Als sie gegangen ist, habe er sein Fluggepäck in den Wagen geladen. Das Büro für Religiöse Angelegenheiten hat wegen eines Komiteetreffens angerufen. Die Justizbehörde aus Lhasa hat sich nach einem überfälligen Bericht erkundigt. Außerdem hat Jao von ihr telefonisch die Bestätigung seiner Flüge einholen lassen. Ansonsten gab es an diesem Tag nur noch das besagte Abendessen.«