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»Hervorragend!« rief Li, schnappte sich das Foto und klopfte Yeshe auf die Schulter. »Du lernst, Genosse.«

Yeshe starrte Li verdutzt an. »Man darf solche Bilder heutzutage besitzen«, sagte er, »solange man sie nicht öffentlich zur Schau stellt.« Er klang nicht unbedingt so, als würde er Streit suchen, aber dennoch schwang ein herausfordernder Unterton in Yeshes Stimme mit, der nicht nur Shan überraschte, sondern ihn selbst vielleicht noch mehr verblüffte.

Li schien es nicht zu bemerken. Er wedelte mit dem Foto wie mit einer Fahne. »Kann sein, aber sieh doch nur, wie alt es ist. Es war illegal, als es aufgenommen wurde. So bauen wir unsere Fälle auf, Genosse.« Ein Assistent streckte die nächste Plastiktüte aus, und Li steckte die Postkarte hinein.

Shan ging zu dem Fenster am anderen Ende des Raums und rieb ein Guckloch in den Schmierfilm, von dem die Scheibe überzogen war. Draußen konnte er ihre Fahrzeuge sehen. Jemand rauchte mit Sergeant Feng eine Zigarette. Shan rieb das Glas noch sauberer. Es war Leutnant Chang. Instinktiv wich Shan einen Schritt zurück. Dabei streifte etwas seinen Fuß. Es war einer der Schuhe. Er hob ihn auf und fuhr mit dem Finger an der Kante entlang. Der Schuh bestand aus billigem Vinyl und war von einer dicken Staubschicht überzogen. Er war neuwertig und vermutlich noch nie getragen worden, aber dennoch war er von einer dicken Staubschicht überzogen. Shan nahm den zweiten Schuh. Auch dieser schien ungetragen zu sein, und er war ebenfalls für den linken Fuß bestimmt. Shan kehrte zu den Überresten des Bettes zurück und durchsuchte sie noch einmal. Weitere Schuhe waren nicht vorhanden.

»Und diesen Mann hat die Öffentliche Sicherheit als unbedenklich eingestuft.« Li hielt den kleinen Buddha empor.

»Ein kleiner Mann mit einem fetten Bauch stellt nichts Illegales dar«, merkte Tan frostig an.

Li bedachte den Oberst mit einem herablassenden Blick. »Genosse Oberst, der kriminelle Verstand ist Ihnen offenbar kaum vertraut.« Er unterstrich diese Bemerkung mit einem zufriedenen Lächeln, streckte dann den Arm aus und ließ den Buddha in die nächste Tüte fallen, die einer seiner Assistenten ihm entgegenhielt.

Vor der Garage hatte sich eine kleine Menschenmenge gebildet. Als Tan erschien, huschten die Leute wie verängstigte Tiere auseinander und verschwanden in einer schmalen Gasse. Nur ein Kind blieb zurück, eine kleine Gestalt von drei oder vier Jahren, die in ein Gewand aus schwarzem Yakfell gehüllt war, das von einer Schnur zusammengehalten wurde. Das Kind, dessen Geschlecht nicht eindeutig zu erkennen war, stand da und musterte Tan überaus neugierig.

»Ich muß Balti finden«, sagte Shan zu dem Oberst. »Falls er verschwunden ist, dann wegen jener Nacht.«

»Du hast Li doch gehört. Vermutlich ist er inzwischen schon längst in Sichuan.«

»Sie haben oben seine Kleidung gesehen, seine kompletten Sachen, in diesem Karton. Er hat nicht gepackt. Er hatte nicht vor abzureisen. Berücksichtigen Sie außerdem folgendes: Wie weit würde der Mann, der in dieser Kammer gewohnt hat, Ihrer Meinung nach wohl kommen, ohne Reisepapiere und in einem gestohlenen Regierungsfahrzeug?«

»Dann hat er den Wagen eben verkauft.« Tan machte einen Schritt auf das Kind zu.

»Das ist nur eine der denkbaren Möglichkeiten. Er hätte in das Verbrechen verwickelt gewesen sein können. Vielleicht ist er aber auch ermordet worden. Oder womöglich ist er voller Angst geflohen und versteckt sich jetzt.«

Das Kind sah Tan an und lachte.

»Aus Angst vor deinem Dämon«, sagte Tan.

»Oder aus Angst vor einer Vergeltungsmaßnahme, und zwar von jemandem, den er in dieser Nacht erkannt hat«, erwiderte Shan.

Tan hielt inne und dachte über Shans Einwände nach. »Wie auch immer, er ist weg. Daran kann man nichts ändern.«

»Ich kann mit den Nachbarn reden. Ich vermute, daß er schon ziemlich lange hier gelebt hat. Die Leute aus der Nachbarschaft haben ihn bestimmt gekannt.«

»Nachbarschaft?« Tan ließ den Blick über die Stapel leerer Ölkanister, die Haufen aus Altmetall und die baufälligen Schuppen schweifen, von denen die Garage umgeben wurde.

»Hier leben Menschen«, sagte Shan.

»Gut, machen wir uns an die Befragung. Ich möchte meinen Ermittler mal bei der Arbeit erleben.«

Jemand rief etwas aus der Gasse. Das Kind reagierte nicht.

Tan streckte dem Kind eine Hand entgegen. Plötzlich tauchten drei Männer auf, stämmige Hirten, die ihre langen Stäbe vor sich hielten, als wollten sie einen Kampf anfangen. Sofort standen Sergeant Feng und Tans Fahrer an der Seite des Oberst und legten die Hände auf die Waffen.

Eine kleine, dicke Frau drängte sich zwischen den Männern hindurch und stieß einen beunruhigten Schrei aus. Sie packte das Kind und herrschte die Männer zornig an, die sich daraufhin langsam zurückzogen.

Tans Miene verhärtete sich. Schweigend zündete er sich eine Zigarette an und musterte die Gasse. »Also gut. Du machst das allein. Ich werde weitere Patrouillen zum Fuß der Südklaue schicken. Laß uns zuerst die wahrscheinlichste Erklärung überprüfen. Wir halten nach seiner Leiche Ausschau. Das Gebiet unterhalb der Klippe wurde bereits auf der Suche nach dem Kopf überprüft, aber der Körper des Fahrers könnte sonstwo liegen. Vielleicht im Drachenschlund.«

Nachdem Tan losgefahren war, bat Shan den Sergeanten, er möge ihren Wagen im Schutz der Garage abstellen. Dann setzten er und Yeshe sich auf zwei rostige Fässer im Werkstatthof.

»Haben Sie Li davon erzählt, daß ich herkommen würde?« fragte Shan, während die Nachbarschaft langsam wieder zum Leben erwachte. »Irgend jemand hat ihn benachrichtigt. Genau wie bei Jaos Haus.«

»Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Wenn man mich danach fragt, wie könnte ich dann dem Justizministerium die Auskunft verweigern?« entgegnete Yeshe.

»Hat man Sie gefragt?«

Yeshe antwortete nicht.

»Auf dem Felsen in Sungpos Höhle, unter dem Jaos Brieftasche entdeckt wurde, hat sich eine Markierung befunden. Jemand hat das Beweisstück dort plaziert, damit das Verhaftungsteam es finden würde.«

Yeshes Gesicht umwölkte sich. »Warum erzählen Sie mir das?«

»Weil Sie sich entscheiden müssen, wer Sie sein wollen. Priester reagieren sehr unterschiedlich auf das Gefängnis. Manche werden immer Priester sein. Andere werden immer Häftlinge sein.«

Yeshe wandte sich mit wütendem Blick zu ihm um. »Soll das heißen, ich bin ein Ungläubiger, wenn ich die Fragen des Justizministeriums beantworte?«

»Ganz und gar nicht. Ich will lediglich sagen, daß bei denjenigen, die zweifeln, das Verhalten allmählich die Überzeugungen bestimmt. Ich sage Ihnen, daß Sie entweder akzeptieren müssen, auf ewig ein Gefangener von Männern wie Direktor Zhong zu bleiben, oder daß Sie beschließen müssen, es nicht einfach hinzunehmen.«

Yeshe stand auf und warf einen Kiesel gegen die Wand. Dann entfernte er sich ein Stück von Shan.

Eine alte Frau tauchte auf, warf ihnen einen gehässigen Blick zu und breitete eine Decke am Straßenrand aus, auf der sie ein paar Streichholzschachteln, Eßstäbchen und Süßigkeiten hinlegte, was ihren gesamten Warenbestand darstellte. Aus ihrem Kleid zog sie eine alte Fotografie hervor, hielt sie sich an die Stirn und legte sie dann vor sich auf die Decke. Es war ein Foto des Dalai Lama. Drei Jungen begannen ein Spiel, indem sie versuchten, mit Kieseln in einen alten Reifen zu treffen. In dem Haus gegenüber der Garage öffnete sich ein Fenster, aus dem jemand ein Bambusrohr schob, an dem Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, die nun wie eine Reihe Gebetsfahnen über der Straße hing.

Shan sah dem Treiben fünf Minuten lang zu, wählte dann eine Rolle Süßigkeiten aus dem Sortiment der Frau aus und bat Yeshe, dafür zu bezahlen. »Die Störung tut mir leid«, sagte er. »Der Mann, der hier gewohnt hat, wird vermißt.« »Verdammter dummer Junge«, erwiderte sie.