»Sie kennen Balti?«
»Geh zum Gebet, habe ich gesagt. Erinnere dich daran, wer du bist, habe ich gesagt.«
»Hat er denn ein Gebet gebraucht?« fragte Shan.
Sie wandte sich an Yeshe. »Sag es ihm«, entgegnete sie. »Sag ihm, daß nur die Toten keine Gebete brauchen. Abgesehen von meinem toten Mann«, fügte sie seufzend hinzu. »Mein Mann war ein Spitzel. Betet für ihn. Er ist zu einem Nagetier geworden. Abends kommt er zu mir, und ich füttere ihn mit ein wenig Getreide. Der alte Narr.«
Einer der Hirten, der nach wie vor seinen Stab bei sich trug, ging zu der Frau und flüsterte ihr etwas zu.
»Du sei ruhig!« herrschte die Witwe ihn an. »Erst wenn du so reich bist, daß keiner von uns mehr arbeiten muß, lasse ich mir von dir vorschreiben, mit wem ich rede und mit wem nicht.«
Sie holte fünf Zigaretten hervor, die in Seidenpapier gewickelt waren, und legte sie sorgfältig vor sich auf die Decke. Dann nahm sie Yeshe genauer in Augenschein. »Bist du derjenige?«
»Derjenige?« fragte Yeshe einfältig.
»Ich habe im Tempel ein Gebet hinterlassen. Damit die Teufel vertrieben werden. Jemand wird kommen. Es ist möglich. Früher hat es Priester gegeben, die dazu in der Lage waren. Mit nur einem einzigen Laut konnten sie es vollbringen. Falls du ein Geräusch von dir gibst, das bis in die nächste Welt vernommen wird, kann dadurch alles wieder in Ordnung gebracht werden.«
Yeshe sah die Frau verwirrt an. »Wieso glauben Sie, daß ich diese Person sein könnte?«
»Weil du gekommen bist. Du bist der einzige Gläubige, der gekommen ist.«
Yeshe warf Shan einen beunruhigten Blick zu. »Wissen Sie, wo der khampa ist?« fragte er die Frau.
»Er hat schon immer gesagt, daß man ihn eines Tages holen würde. Er hat uns sogar dafür bezahlt, daß wir aufpassen. Nachts, wenn er ihn mit nach Hause brachte, haben mein Mann und ich stets die Treppe im Auge behalten. Wir haben extra tagsüber geschlafen, damit wir nachts Wache halten konnten.«
»Wen oder was hat er denn mitgebracht?« fragte Yeshe.
»Den Koffer. Den kleinen Koffer. Mit Unterlagen. Er hat immer einige Nächte lang für seinen Chef darauf aufgepaßt. Große Geheimnisse. Am Anfang war er ganz stolz deswegen. Später hatte er Angst. Trotz des Verstecks hatte er Angst.«
»Was für Unterlagen? Haben Sie sie gesehen?« fragte Yeshe.
»Natürlich nicht. Ich arbeite doch wohl kaum für die Regierung, oder? Gefährliche Geheimnisse. Worte der Macht. Regierungsgeheimnisse.«
»Sie haben ein Versteck erwähnt«, warf Shan ein. »Meinen Sie damit, er hat ein besonderes Versteck für den Koffer gehabt?«
Sie beachtete ihn nicht. Inzwischen schien sie sich nur noch für Yeshe zu interessieren, als würde sie in ihm jemanden sehen, den niemand sonst erkennen konnte, Yeshe selbst eingeschlossen.
»Wer würde ihn holen? Wovor hat er Angst gehabt?« fragte Yeshe. »Ankläger Jao?«
»Nicht Jao. Jao war gut zu ihm. Hat ihm manchmal zusätzliche Lebensmittelkarten gegeben. Ließ ihn manchmal seine Kleidung tragen.«
»Wer dann?«
Sie runzelte die Stirn und musterte Yeshe durchdringend. »Deine Kräfte sind nicht geschwunden«, sagte sie. »Du bist davon überzeugt. Aber sie liegen lediglich verborgen.«
Yeshe wich einen Schritt zurück, als würde die Frau ihm Angst einflößen. »Wo ist Balti?« fragte er. Seine Stimme hatte einen flehentlichen Unterton angenommen.
»Ein Junge wie der steigt auf. Oder fällt zurück.« Sie lachte, als sie über ihre Worte nachdachte, und sah den Hirten an. »Rauf oder runter«, wiederholte sie und lachte erneut. Dann wandte sie sich wieder an Yeshe. »Auch falls man ihn geholt hat, wird er dennoch zurückkehren. Er wird als Löwe zurückkehren. Denn genau das widerfährt den Sanftmütigen. Er wird als Löwe zurückkehren und uns alle in Stücke reißen, die wir ihn enttäuscht haben.«
Shan ging vor der Frau in die Hocke. »Zeigen Sie uns das Versteck«, flüsterte er.
Sie schien ihn nicht zu hören. »Zeigen Sie es uns«, bat Yeshe. Sie spielte nervös mit ihren Waren herum.
»Wir müssen es sehen«, drängte Shan. »Um Baltis willen.«
»Er hatte solche Angst«, sagte sie.
»Ich glaube, daß er sehr mutig war.«
Endlich ging sie auf ihn ein. »Er hat nachts geweint.«
»Jeder mutige Mann mag auch Gründe zum Weinen haben.«
Sie vermied es, ihn anzusehen. »Was ist, wenn ihr diejenigen seid, die er gefürchtet hat?«
»Sehen Sie uns an. Glauben Sie das wirklich? Würden diese Leute herkommen und so mit Ihnen reden?« Er drückte ihren Arm. Langsam hob sie den Kopf, als bereite es ihr Schmerzen, Shan in die Augen zu blicken.
»Er nicht«, sagte sie und nickte in Yeshes Richtung. »Er ist keiner von denen.«
»Dann tun Sie es um seinetwillen«, sagte Shan.
Da erhob sie sich eilig, als wolle sie die ungebetenen Besucher so schnell wie möglich wieder loswerden. Der Hirte mit seinem Stab kam ebenfalls mit und folgte ihnen in die Garage. Sie gingen an ihrem Wagen vorbei in den hinteren Teil des Gebäudes, der im Schatten lag. Feng saß im Auto und schnarchte laut.
Dort hinten hatte man ein stabiles hölzernes Regal errichtet, das für große Autoteile gedacht war. Ganz unten stand eine Reihe hoher, schmaler Benzinkanister, die aus verschiedenen Personenfahrzeugen und Lastwagen stammten.
Sie legte die Hand auf den dritten Kanister. »Er war klein genug, um dahinter zu greifen«, sagte sie. Shan und Yeshe zogen den Kanister aus dem Regal. Man hatte das hintere Stück des Behälters sauber abgeschnitten und die Kanten des größeren Teils nach innen gebogen, so daß man den Kanister wieder zusammenstecken konnte. Die Steckflächen waren eingefettet. Shan nahm einen Schraubenzieher und hebelte den Deckel ab.
Im Innern befand sich kein Aktenkoffer, sondern lediglich ein verschmutzter Umschlag mit mehreren Blättern aus dünnem Papier.
Die Frau half ihnen dabei, den Kanister zurück ins Regal zu schieben, und wandte sich dann noch einmal an Yeshe. »Deine Kräfte sind nicht geschwunden«, wiederholte sie. »Sie haben nur ihren Mittelpunkt verloren.«
Yeshe wirkte nach diesen Worten wie gelähmt. Als Shan ihn zum Wagen zog und Feng zurief, er möge aufwachen, war Yeshe nicht in der Lage, den Blick von der Frau abzuwenden. Während sie auf die andere Seite der Stadt fuhren, hielt er seinen Rosenkranz fest umklammert. Er ließ die Perlen nicht durch die Finger gleiten, sondern schaute sie nur an. »In Sichuan«, sagte er plötzlich, »könnte ich eine eigene Wohnung haben.«
Shan hatte hinter Feng Platz genommen und musterte die Unterlagen aus dem Kanister. Man hatte sie aus einer Ermittlungsakte gerissen, der Akte über den Mord an Jin San, dem Leiter des Landwirtschaftskollektivs der Langen Mauer, jenem Verbrechen, für das Dza Namkhai, Mitglied der Fünf von Lhadrung, hingerichtet worden war. Am unteren Rand der letzten Seite fand sich eine lange Reihe arabischer Zahlen, die aus fünf Gruppen zu je fünf Ziffern bestand.
»Kräfte«, sagte Yeshe in gequältem Tonfall. »Was für eine Frau. Große Kräfte. Alle Welt kann bestätigen, wie groß meine Kräfte sind.«
Shan blickte auf. »Seien Sie nicht zu hart zu sich. Die stärkste Kraft ist nach meiner Überzeugung die Fähigkeit, richtig und falsch unterscheiden zu können.«
Yeshe dachte darüber nach. »Aber es fühlt sich nie so an, als ginge es um richtig und falsch«, erwiderte er schließlich. »Mir kommt es eher so vor, als müßte man sich für das geringere Übel entscheiden.«
»Was hat die Frau damit gemeint, als sie von einem Geräusch sprach, das die nächste Welt erreichen könne?« fragte Shan.
»Ein Klang ist wie ein Gedanke mit Beinen, wurde in manchen der alten Klöster gelehrt. Falls man es schafft, die eigenen Gedanken auf die richtige Weise zu konzentrieren, kann man über diese Welt hinaussehen. Und falls es gelingt, dieses Prinzip in ein Geräusch umzusetzen, kann man die andere Welt tatsächlich erreichen und berühren.«