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»Berühren?«

»Es tut sich eine Art Spalt zwischen den Welten auf. Wie ein Blitzstrahl. Dieser Spalt verfügt über eine unglaubliche Energie. Manche nennen es das Donnerritual. Es kann Dinge zerstören.«

Shan schaute wieder auf die Papiere. Die Frau hatte gesagt, jemand sei hinter Balti hergewesen, und zwar jemand anders als Jao. Balti hatte Jao ebenso vertraut, wie dies umgekehrt der Fall gewesen war. Eine alte Akte, eine abgeschlossene Untersuchung und dennoch so geheim, daß Jao sogar das eigene Büro nicht sicher genug dafür erschien. Oder womöglich sogar besonders unsicher.

»Sie hat gesagt, Balti würde aufsteigen oder zurückfallen«, erinnerte Shan sich beiläufig. »Sie schien es für einen guten Scherz zu halten.«

Yeshe klang noch immer leidend. »Er kehrt entweder auf das Plateau von Kham zurück, das so hoch oben liegt wie sonst nichts auf der Welt. Oder er bleibt und fällt in der Abfolge der Lebensformen zurück.«

Shan nickte langsam und versuchte, eine Verbindung zwischen dieser Äußerung und der Akte herzustellen. Die Fährte war fast greifbar nahe. Wer wollte die Akte? Jemand würde kommen, hatte Balti gesagt. Nicht die purbas. Die hatten nicht gewußt, wer er war. Und falls doch, würden sie Balti nicht in Angst und Schrecken versetzen. Wer dann? Die Kriecher? Eine Verbrecherbande? Soldaten? Kriminelle Soldaten? Wer auch immer es war, hätte sich nicht gescheut, Balti zu ermorden. Man hätte ihn in jener Nacht geschnappt und zum Sprechen gebracht, bis er auch die allerletzte Einzelheit jedes Geheimnisses und jedes Verstecks verraten hätte. Wenn der Kanister also nach wie vor zumindest einen Teil seiner Geheimnisse enthielt, so konnte das nur eines bedeuten, wurde Shan plötzlich klar: Balti war am Leben und in Freiheit.

Kapitel 11

Die Straße, die zum ragyapa-Dorf führte, hörte etwa siebzig Meter vor der Ansiedlung auf und endete an einer großen Lichtung, auf der eine Reihe flacher Felsen als Abladeplattformen dienten. Als Sergeant Feng auf die Lichtung einbog, kam ihnen mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit ein kleiner Tieflader entgegen. Shan erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Frau am Fenster. Sie weinte.

Auf dem Pfad zum Dorf war ein Eselkarren unterwegs, auf dem ein langes, dickes Bündel lag, das in Segeltuch gewickelt war.

Zu Shans Überraschung sprang Yeshe als erster aus dem Auto. Er nahm einen Jutesack mit alten Äpfeln von der Rückbank und machte sich mit trauriger Entschlossenheit auf den Weg. Als Shan ausstieg, warf Feng einen Blick auf das lange Bündel auf dem Karren, verriegelte dann sofort die Türen und kurbelte die Fenster hoch. Als letzte Verteidigung zündete er sich eine Zigarette an und begann, den Innenraum des Wagens mit Rauch zu füllen.

Die ragyapas waren Shan völlig fremd. Mit Han-Chinesen hatten sie nichts zu tun, weder den toten noch den lebendigen. Genaugenommen hatten sie mit keinem Außenstehenden etwas zu tun, sondern blieben unter sich. Sogar andere Tibeter trauten sich nur selten in ihre Nähe, außer um die Leiche eines Angehörigen und als Bezahlung etwas Geld oder einen Korb mit Waren zurückzulassen. In einem ragyapa-Dorf in der Nähe von Lhasa hatten zwei Soldaten versucht, die Leute bei der Arbeit zu filmen, und dafür mit ihrem Leben bezahlt. Bei Shigatse waren japanische Touristen mit Beinknochen geschlagen worden, als sie sich zu nahe heranwagten.

Shan holte Yeshe schnell wieder ein und blieb einen Schritt hinter ihm. »Sie sehen so aus, als hätten Sie einen Plan«, stellte er fest.

»Richtig. Der Plan sieht vor, so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden«, erwiderte Yeshe leise.

Auf dem Boden neben der ersten Hütte saß ein ungewaschener Junge mit langen, struppigen Haaren und schichtete Steine auf. Er schaute hoch, bemerkte die Besucher und stieß einen Schrei aus, der nicht wie eine Warnung klang, sondern eher wie ein plötzlicher Schmerzenslaut, als hätte man ihn getreten. Daraufhin kam eine Frau aus dem Innern der Hütte. In einer Hand hielt sie einen verbeulten Teekessel, und mit der anderen balancierte sie ein Baby auf ihrer Hüfte. Sie sah Shan an, allerdings nicht sein Gesicht, sondern seinen Körper, den sie so langsam in Augenschein nahm, als würde sie ihn abmessen.

Hinter der Hütte befand sich der zentrale Platz der Ansiedlung, um den herum man mehrere Behausungen errichtet hatte. Einige waren primitive Hütten aus Zweigen, Brettern und sogar Pappe. Andere jedoch waren kleine, aber solide Steingebäude, wie Shan überrascht feststellte. Vor einem der Häuser arbeiteten mehrere Männer und schärften soeben eine Reihe von Äxten und Messern.

Die Männer erinnerten irgendwie an Affen. Sie waren nicht groß, hatten dicke Arme und kleine Augen. Einer von ihnen stand auf, machte einen Schritt auf Shan zu und schwang drohend eine kleine Axt. Sein Blick war auf beunruhigende Weise leer, als hätte er ihn sich bei den Toten ausgeborgt. Als er den Sack in Yeshes Hand bemerkte, wich die Strenge aus seiner Miene. Zwei andere Männer traten auf Yeshe zu und streckten mit feierlicher Geste die Arme aus. Als Yeshe ihnen den Sack gab, nickten sie ihm mitfühlend zu, nur um im nächsten Moment verwirrt dreinzuschauen. Einer der Männer sah in den Sack und holte lachend einen Apfel daraus hervor. Seine Gefährten fielen in das Gelächter ein, und er warf den Apfel in den Kreis der Männer. Das war nicht die Art von kleinem Jutepaket, das den ragyapas normalerweise überbracht wurde, begriff Shan plötzlich, keines der winzigen Bündel des Todes, die sogar den Ausbeinern verhaßt sein mußten.

Yeshes Handlung entschärfte die Situation. Weitere Äpfel flogen durch die Luft, und die Männer holten Taschenmesser hervor und begannen, Stücke der Früchte untereinander zu verteilen. Die längeren Klingen blieben den geheiligten Aufgaben vorbehalten. Shan besah sich die Werkzeuge. Er entdeckte kleine Messer, deren Klingen in Haken endeten. Lange Messer zum Häuten. Grobe Äxte, wie man sie vielleicht schon vor zwei Jahrhunderten geschmiedet hatte. Die Hälfte der Klingen war problemlos dazu geeignet, einem Mann den Kopf vom Rumpf zu trennen.

Kinder tauchten auf und waren ganz erpicht auf die Früchte.

Von Shan hielten sie sich fern, aber um Yeshe scharten sie sich mit großen, glücklichen Augen.

»Wir kommen von der Buchhandlung in der Stadt«, verkündete Shan.

Die Kinder reagierten nicht darauf, aber die Männer waren sofort ganz Ohr. Leise tauschten sie einige Worte aus, und dann lief einer von ihnen den Hügel hinter dem Dorf hinauf.

Die Kinder rückten Yeshe immer näher, und auf einmal schien er ganz interessiert an ihnen zu sein. Er kniete nieder, um einem der Kinder den Schuh zuzubinden, und inspizierte dabei sorgfältig die Kleidung des Jungen. Dann stürzte sich die ganze Horde auf Yeshe und warf ihn zu Boden. Einige der älteren Jungen zogen Spielzeugmesser aus Holz und vollführten unter hysterischem Gelächter sägende Bewegungen an seinen Gelenken.

Shan sah dem Getümmel nur kurz zu und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den Läufer. Schon bald wurde klar, daß der Mann einen Felsen ansteuerte, der aus der niedrigen Kammlinie oberhalb der Ansiedlung hervorragte. Shan folgte dem Mann und hielt dann inne, als ihm die Vögel auffielen. Mehr als ein Dutzend von ihnen, zumeist Geier, kreisten hoch oben am Himmel. Andere, sowohl große als auch kleine Raubvögel, saßen entlang des Wegs auf den Ästen der verkrüppelten Bäume. Sie wirkten seltsam zahm, als würde das Dorf ebensosehr ihnen wie den ragyapas gehören. Ihre Blicke folgten dem Läufer mit trägem Interesse.

Es hieß Himmelsbegräbnis. Die schnellste Beseitigung der körperlichen Überreste der menschlichen Existenz. In einigen Teilen Tibets wurden die Leichen den Flüssen übergeben, weshalb es verpönt war, Fisch zu essen. Shan hatte gehört, daß in den Regionen, die nach wie vor eng mit Indien verbunden waren, rituelle Opferungen praktiziert wurden. Doch für die meisten gläubigen Buddhisten in Tibet gab es nur eine einzige Möglichkeit, das Fleisch loszuwerden, das nach dem Ende einer Inkarnation übrigblieb. Die Tibeter konnten nicht ohne die ragyapas leben. Aber mit ihnen leben konnten sie auch nicht.