»Ja«, erwiderte Sergeant Feng. »Nur ein kurzer Zwischenstop. Es dauert nicht lange.«
Er hielt neben dem Speisesaal an, stieg aus und öffnete Shan zu dessen Überraschung die Tür. »Es dauert nicht lange«, wiederholte er.
Shan folgte ihm verwirrt, aber dann fiel es ihm wieder ein. »Sie haben mit Leutnant Chang gesprochen.«
Feng grunzte nichtssagend.
»Ist er versetzt worden? Er verbringt momentan nicht allzuviel Zeit bei der 404ten.«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt? Mit zweihundert Mann Grenztruppen, die dort ihr Lager aufgeschlagen haben? Weshalb sollte er?«
»Was wollte er denn?«
»Einfach nur reden. Er hat mir von einer Abkürzung auf dem Weg zur amerikanischen Mine erzählt.«
Im Speisesaal saßen zahlreiche Soldaten in kleinen Gruppen zusammen und tranken Tee. Feng ließ den Blick durch den Raum schweifen und führte Shan dann zu drei Männern, die im hinteren Teil des Saals Mah-Jongg spielten.
»Meng Lau«, rief er. Zwei der Männer zuckten zusammen und sprangen auf. Der dritte, der Feng und Shan den Rücken zuwandte, lachte und legte einen Spielstein. Als Feng dem Mann eine Hand auf die Schulter legte, machten die anderen sich aus dem Staub.
Der Mann stieß einen erschrockenen Fluch aus und drehte sich um. Er war jung, fast noch ein Kind, mit fettigem Haar und trübem, glanzlosem Blick. Er hatte einen umgedrehten Kopfhörer aufgesetzt, dessen Bügel unter seinem Kinn zusammenliefen.
»Meng Lau«, wiederholte Feng.
Das spöttische Grinsen des Mannes verschwand. Langsam nahm er den Kopfhörer ab. Shan knöpfte seine Hemdtasche auf und zeigte ihm das Papier, das Direktor Hu mitgebracht hatte. »Haben Sie das hier unterzeichnet?«
Meng warf Feng einen kurzen Blick zu und nickte langsam.
Mit seinem linken Auge stimmte etwas nicht. Es bewegte sich unbestimmt hin und her, als sei es womöglich künstlich.
»Hat Direktor Hu darum gebeten?«
»Der Ankläger war hier und wollte das so«, erwiderte Meng nervös und stand vom Tisch auf.
»Der Ankläger?«
Meng nickte. »Sein Name ist Li.«
»Demnach haben Sie ein Exemplar für Li und eines für Hu unterzeichnet?«
»Ich habe zwei Blätter unterschrieben.«
Also stimmte es, erkannte Shan. Li Aidang stellte eine eigene Akte zusammen. Doch weshalb sollte er sich die Mühe machen, Shan ein Duplikat der Aussage zuzuspielen? Um sicherzugehen, daß Shan so schnell wie möglich zu einem Ergebnis kam? Um Shan in die Irre zu führen? Oder vielleicht, um ihn zu warnen, daß Li ihm stets einen Schritt voraus sein würde?
»Stand in beiden Aussagen das gleiche?«
Der Soldat sah zunächst unsicher zu Feng, bevor er antwortete. »Natürlich.«
»Aber wer hat die Worte zu Papier gebracht?« fragte Shan.
»Das sind meine Worte.« Meng wich einen Schritt zurück.
»Haben Sie in jener Nacht einen Mönch gesehen?«
»So steht es in der Aussage.«
Die Worte schienen Feng einen Moment lang die Sprache zu verschlagen. Dann wurde er wütend. »Du kleiner Hosenscheißer!« brüllte er. »Antworte gefälligst klar und deutlich!«
»Waren Sie in jener Nacht im Dienst, Gefreiter Meng?« fragte Shan. »Ihr Name stand nicht auf dem Dienstplan.«
Der Soldat fing an, an seinem Kopfhörer herumzunesteln. »Manchmal tauschen wir die Dienste.«
Fengs Hand zuckte vor und verpaßte dem Soldaten eine Ohrfeige. »Der Inspektor hat dir eine Frage gestellt.«
Shan sah Feng überrascht an. Der Inspektor.
Meng musterte den Sergeanten ausdruckslos, als sei er es gewohnt, geschlagen zu werden.
»Haben Sie in jener Nacht einen Mönch gesehen?« fragte Shan erneut.
»Ich bin als Zeuge für die Verhandlung geladen, und daher glaube ich, daß ich mit niemandem sprechen darf.«
Im ersten Moment legte Fengs Gesicht sich abermals in zornige Falten, die jedoch unmittelbar darauf wieder verschwanden. Der Soldat hatte sie allerdings schon bemerkt und war noch ein Stück zurückgewichen. »Es ist politisch«, murmelte er und rannte weg. Feng starrte ihm hinterher und sah dabei nicht länger wütend, sondern verletzt aus.
Der Sergeant machte keinen Hehl aus seiner Mißstimmung, fuhr die Gänge bis in hohe Drehzahlbereiche aus und bremste kaum an den Kreuzungen, bis sie die Nordklaue erreichten und den langen Aufstieg zur Mine der Amerikaner begannen.
»Hier«, murmelte er schließlich und zog eine Zellophantüte aus der Tasche. »Kürbiskerne.« Er reichte die Tüte an Shan weiter. »Richtig gute, nicht dieser fade Mist, den man auf dem Markt bekommt. Gesalzen. Hol ich mir immer von der Verpflegungsstelle.«
Bedächtig und schweigend kauten sie ihre Kerne, wie zwei alte Männer auf einer Parkbank in Peking. Wenig später beugte Feng sich vor und achtete besonders auf den Straßenrand.
»Chang hat gesagt, man würde eine ganze Stunde sparen«, erklärte Feng, als er auf einen ausgetretenen Weg einbog, der kaum mehr als ein Ziegenpfad zu sein schien. »Auf diese Weise können wir rechtzeitig zum Abendessen zurück sein.«
Nach fünf Minuten näherte der Pfad sich dem Kamm eines Bergrückens. Rechts, kaum einen Meter vom Wagen entfernt, ging es beinahe senkrecht in die Tiefe. Mehr als hundert Meter unter ihnen war ein großes Geröllfeld auszumachen.
»Wie soll dieser Weg denn zu den Amerikanern führen?« fragte Yeshe nervös. »Wir müssen doch noch den Abgrund überqueren.«
»Mach ein Nickerchen«, brummte Feng. »Spar deine Kräfte für all die Arbeit, die bei der 404ten auf dich wartet.«
»Was soll das denn heißen?« fragte Yeshe beunruhigt.
»Ich habe mit der Sekretärin des Direktors gesprochen, ganz wie du mich gebeten hast. Sie hat gesagt, momentan würde niemand am Computer arbeiten. Der Direktor hat angeordnet, man solle einfach alles ansammeln, weil in zwei Wochen jemand kommt.«
»Das könnte auch jemand anders sein«, protestierte Yeshe.
Feng schüttelte den Kopf. »Sie hat einen der Offiziere in der Verwaltung gefragt, und der hat gesagt, der tibetische Bengel des Direktors würde zurückkommen.«
Von hinten war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Shan drehte sich um und sah, daß Yeshe vornübergebeugt dasaß und die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Bekümmert wandte Shan sich ab. Er hatte es Yeshe bereits gesagt. Es war an der Zeit für ihn, sich zu entscheiden, wer er war.
Plötzlich hob Shan die Hand. »Da...«, sagte er, als Sergeant Feng das Tempo verringerte, und wies auf frische Reifenspuren, die vom Pfad abbogen und hinter der Kammlinie verschwanden.
»Also sind wir nicht die einzigen, die diese Abkürzung benutzen«, sagte Feng wie zur Rechtfertigung.
Viele andere auch, dachte Shan - zum Beispiel Amerikaner auf der Suche nach alten Schreinen.
Shan öffnete die Tür und ging vorsichtig um den Wagen herum, wobei er besonders auf die jähe Abbruchkante achtete.
Er hob einen Heidekrautstengel auf, der inmitten der Spur lag, und reichte ihn Feng. »Riechen Sie mal. Der wurde vor noch nicht einmal einer Stunde zerbrochen.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, daß ich dieser frischen Fährte folgen werde. Der Weg vor Ihnen führt um diese Felsformation herum und dann zum Kamm. Ich treffe Sie auf der anderen Seite.«
Feng runzelte die Stirn, fuhr aber langsam wieder an.
Während Shan den Hang hinaufstieg, versuchte er, die Lage der verschiedenen Orte einzuordnen. Die Schädelhöhle lag knapp anderthalb Kilometer von hier entfernt. War das hier der Hintereingang der Amerikaner? Waren Fowler und Kincaid so dumm gewesen, zu dem Schrein zurückzukehren? Als er sich dem Grat näherte, hörte er ein eigentümliches Geräusch. Wie Glocken, dachte er. Nein, Trommeln. Ein paar Meter weiter erkannte er, daß es sich um Rockmusik handelte. Als er den Kamm erreichte, ging er sofort in die Hocke und wich ein Stück zurück. Da stand zwar ein Geländefahrzeug, aber es gehörte nicht den Amerikanern. Der Wagen war leuchtend rot.