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»Es ist eine kleine Gemeinschaft«, stellte Luntok lakonisch fest.

»Es muß schwierig sein.«

»Es gibt inzwischen Quoten für uns. Ich durfte die Universität besuchen. Ich habe eine gute Anstellung.«

»Ich meine für die anderen. Sie sehen die Leute hier und in der Stadt und wissen gleichzeitig, daß die meisten von ihnen den Absprung niemals schaffen werden.«

Luntoks Augen verengten sich, aber er wandte sie nicht von der Fotokarte ab. »Die ragyapas sind stolz auf ihre Arbeit. Es ist eine heilige Pflicht, die einzige religiöse Praktik, die ohne Einschränkung auch weiterhin ausgeübt werden darf.«

»Sie scheinen gut versorgt zu werden. Glückliche Kinder. Viel warme Kleidung.«

Als wäre Shans Bemerkung das Stichwort, auf das er gewartet hatte, nahm auch Luntok seine Mütze und stand auf. »Es bringt angeblich Unglück, einen ragyapa zu schlecht zu bezahlen«, sagte er mit einem argwöhnischen Blick, drehte sich um und ging.

Shan zweifelte nicht daran, daß die ragyapas in der Lage gewesen wären, den Mord an Jao durchzuführen. Waren die Armeevorräte eine Belohnung gewesen? Falls ja, hatte jemand anders sie für die Ermordung Jaos bezahlt. Jemand, der auf Militärbestände zugreifen konnte. Shan ging zurück in den ersten Raum und sah sich dort um. Die Frau schnarchte inzwischen. Sonst war niemand dort. Shan ging zu der roten Tür und öffnete sie.

Ingesamt vier Computerterminals beherrschten das Zimmer.

Auf einem großen Konferenztisch standen als Überreste eines Mittagessens ein paar Schalen, an deren Rändern noch Nudeln klebten. Zwei Chinesen in westlicher Kleidung saßen da, blätterten in Hochglanzkatalogen und tranken Tee. Einer von ihnen hatte sich eine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Aus einer teuren Stereoanlage erklang westliche Rockmusik. An einem Schreibtisch in der Ecke des Raums saß Tyler Kincaid und reinigte seine Kamera.

»Genosse Shan«, sagte eine vertraute Stimme aus dem hinteren Teil des Zimmers. Li Aidang erhob sich von einem Sofa. »Wenn ich doch nur Bescheid gewußt hätte, dann hätte ich Ihnen selbstverständlich angeboten, gemeinsam mit mir herzufahren.« Er wies auf den Tisch. »Wir treffen uns hier zweimal im Monat zum Mittagessen. Die Aufsichtskommission.«

Shan ging langsam im Zimmer umher. Auf einem der Lautsprecher lag eine leere Kassettenhülle. The Grateful Dead, stand darauf. Vielleicht hatte Chang diese Kassette gehört, als er und sein Wagen in den Abgrund stürzten, dachte Shan ohne Reue. Aus einem kleinen Kühlschrank holte Li eine Coca-Cola hervor und streckte sie Shan entgegen.

An einer der Wände waren Fotokarten angebracht. An einer anderen hatte man mit Stecknadeln Fotografien befestigt: weitere Studien tibetischer Gesichter, die mit der gleichen Feinfühligkeit aufgenommen worden waren, wie Shan sie in Kincaids Büro gesehen hatte. Li gab ihm die Limonade.

»Mir war gar nicht bewußt, daß das Büro des Anklägers sich für Mineralabbau interessiert«, sagte Shan und stellte die Dose auf den Tisch, ohne sie zu öffnen.

»Wir sind das Justizministerium. Die Mine ist die einzige ausländische Investition im ganzen Bezirk. Die Volksregierung muß sicherstellen, daß alles erfolgreich verläuft. Es gibt so vieles zu bedenken. Die Organisation der Arbeit, Exportgenehmigungen, Devisenbescheinigungen, Arbeitserlaubnisse, Umweltschutzbestimmungen. In all diesen Angelegenheiten muß das Ministerium konsultiert werden.«

»Ich hatte ja keine Ahnung, daß Bor ein solch wichtiges Produkt darstellt.«

Der stellvertretende Ankläger lächelte großmütig. »Wir möchten, daß unsere amerikanischen Freunde auch weiterhin zufrieden sind. Ein Drittel der Lizenzgebühren verbleibt im Bezirk. Nach drei Jahren der Produktion werden wir in der Lage sein, eine neue Schule zu bauen. Nach fünf Jahren vielleicht eine neue Klinik.«

Shan ging zu einem der Computermonitore, die näher bei Kincaid standen. Endlose Zahlenkolonnen liefen über den Bildschirm.

»Unseren Freund, den Genossen Hu, kennen Sie ja bereits«, sagte Li und wies auf den ersten der beiden Männer am Tisch. Hu salutierte genauso spöttisch in seine Richtung, wie zuvor, als er Shan in Tans Büro zurückgelassen hatte. Mit der Kappe auf dem Kopf hatte Shan ihn nicht erkannt. Er nahm den Direktor der Minen genauer in Augenschein. War Hu überrascht, ihn zu sehen?

»Genosse Inspektor«, grüßte Hu ihn kurz angebunden, musterte Shan einen Moment lang mit seinen kleinen Käferaugen und widmete sich dann wieder dem Katalog. Darin waren Bilder von lächelnden blonden Paaren zu sehen, die im Schnee standen und leuchtendbunte Pullover trugen.

»Geben Sie immer noch Fahrstunden, Genosse Direktor?« fragte Shan und versuchte so zu tun, als würde der Computer ihn ablenken.

Hu lachte.

Li deutete auf den zweiten Mann, eine gepflegte, athletische Gestalt, die langsam aufstand, um Shan besser abschätzen zu können. »Der Major gehört zum Grenzkommando.« Li sah Shan bedeutungsvoll an. »Er verfügt über Mittel und Wege, um unser Projekt zu unterstützen.« Der Major, sonst nichts. Er wirkte so geschniegelt, als wäre er direkt den Seiten des Katalogs entstiegen, dachte Shan zuerst. Aber dann wandte er Shan das Gesicht zu. Über seine linke Wange verlief ein Streifen Narbengewebe; es konnte nur von einer Schußverletzung herrühren. Seine Lippen verzogen sich zu einem als Gruß gedachten Lächeln, aber seine Augen blieben leblos. Es war die altbekannte Überheblichkeit. Der Major, beschloß Shan, gehörte zum Büro für Öffentliche Sicherheit.

»Eine faszinierende Anlage«, sagte Shan geistesabwesend und schlenderte weiter im Raum umher. »Voller Überraschungen.« Er blieb vor den Fotos stehen.

»Ein Triumph des Sozialismus«, stellte der Major fest. Seine Stimme hatte einen jungenhaften Klang, der von seinem Gesichtsausdruck Lügen gestraft wurde.

Tyler Kincaid nickte Shan ruhig zu, sagte jedoch nichts. Sein halber Unterarm war in ein großes Stück Gaze gewickelt, das man mit Heftpflaster über einer relativ frischen Verletzung befestigt hatte. Durch die Gaze hindurch konnte man einen dunklen Fleck erkennen, der von getrocknetem Blut stammte.

»Genosse Shan ermittelt in einem Mordfall«, erklärte Li dem Major. »Früher hat er Antikorruptionskampagnen in Peking geleitet. Er hat zum Beispiel die berüchtigte Hainan-Affäre aufgedeckt.« Durch diesen Fall hatte Shan für einige Monate regelrechte Berühmtheit erlangt. Er fand heraus, daß Provinzbeamten der Insel Hainan Schiffsladungen voller japanischer Automobile kauften - und das für eine Insel, deren Straßennetz nur etwa hundertfünfzig Kilometer umfaßte -, um diese dann auf dem Schwarzmarkt ins Festland zu verschieben. Doch das lag fünfzehn Jahre zurück. Mit wem hatte der stellvertretende Ankläger gesprochen? Mit Direktor Zhong? Mit Peking?

Shan musterte den Major, der Lis Ausführungen keine Beachtung schenkte. Sein Blick hatte nicht bedrohlich gewirkt und seine Stimme nicht fragend, obwohl Shan hier unaufgefordert eingedrungen war. Er wußte bereits, um wen es sich bei Shan handelte.

»Und hier befindet sich auch Ihre Telefonanlage?« fragte Shan den Amerikaner.

Kincaid stand auf und rang sich ein Lächeln ab. »Da drüben«, sagte er und wies auf einen kleinen Tisch an der Wand, auf dem sich eine Konsole befand, über der wiederum ein Lautsprecher hing. »Möchten Sie sich aus New York eine Pizza bestellen?«

Li und der Major lachten angestrengt.

»Und die Karten?«

»Karten? Wir verfügen über eine komplette Handbibliothek mit Atlanten und technischen Zeitschriften.«

»Ich meine die Satellitenbilder.«

»Erstaunlich, nicht wahr?« schaltete Li sich ein. »Als wir sie zum erstenmal gesehen haben, kam es uns wie ein Wunder vor. Die Welt sieht so anders aus.« Er ging zu Shan und beugte sich vor. »Wir müssen über unsere Akten sprechen, Genosse«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Es sind nur noch wenige Tage bis zum Prozeß, und es besteht kein Anlaß zu übertriebener Zurückhaltung.«