Noch während Shan über das Angebot des stellvertretenden Anklägers nachdachte, ging die Tür auf, und Luntok erschien. Er nickte Kincaid zu und verschwand schnell wieder. Die Tür ließ er hinter sich offenstehen. Kincaid streckte sich und forderte Shan mit einer einladenden Geste auf, ihm zu folgen. »Der Nachmittagskletterkurs. Wollen Sie sich nicht auch mal mit uns abseilen?«
»Sie klettern trotz Ihrer Verletzung?«
»Das hier?« fragte der Amerikaner leutselig und hob den Arm. »Das ist nicht weiter schlimm. Ich bin bloß an einem gezackten Stück Quarz hängengeblieben. Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Wissen Sie, man muß sich immer wieder aufrappeln.«
Li lachte erneut und ging zurück zum Sofa. Hu blätterte weiter in seinen Katalogen. Der Major zündete sich eine Zigarette an und schob Shan mit einem durchdringenden Blick zur Tür hinaus.
Draußen saß Rebecca Fowler auf der Motorhaube ihres Wagens und schaute ins Tal hinunter.
Shan dachte nicht, daß sie ihn bemerkt hatte, bis sie plötzlich das Wort ergriff. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie das für Sie sein muß«, sagte sie.
Ihr Mitleid war ihm unangenehm. »Falls man mich nicht nach Tibet geschickt hätte, hätte ich auch nie die Tibeter kennengelernt.«
Sie wandte sich mit einem traurigen Lächeln zu ihm um und griff in die große Tasche ihrer Nylonweste. »Hier«, sagte sie und holte zwei Taschenbücher hervor. »Bloß zwei englische Romane. Ich dachte, Sie würden vielleicht...«
Shan nahm die Bücher und neigte zum Dank leicht den Kopf. »Das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe schon lange keinen englischen Text mehr gelesen.« Die Bücher hätten in der Tat einen echten Schatz bedeutet. Allerdings würde man sie konfiszieren, sobald man ihn wieder zur 404ten schickte. Er brachte es nicht übers Herz, Miss Fowler davon zu erzählen.
Er lehnte sich gegen den Wagen und schaute zu den umliegenden Bergen empor. Die schneebedeckten Gipfel glühten in der Sonne des späten Nachmittags. »Die Soldaten sind weg«, stellte er fest.
Fowler folgte seinem Blick zu den Teichen. »Ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Die Männer wurden zu irgendeinem Notfall abberufen.« »Einem Notfall?«
»Der Major hatte etwas damit zu tun.«
Shan ging vorn um den Wagen herum und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Jemand saß auf einem der Wälle und starrte auf die Berge. Shan kniff die Augen zusammen und erkannte, daß es sich um Yeshe handelte. Sergeant Feng saß auf der Motorhaube ihres Wagens. Als Shan zu dem Bereich hinter den Gebäuden schaute, erstarrte er in der Bewegung. Hinter dem ersten Haus stand ein vertrautes Fahrzeug. Ein roter Land Rover. Noch ein roter Land Rover. »Wessen Wagen ist das?«
Fowler blickte auf. »Der rote? Muß wohl der von Direktor Hu sein.«
Er widerstand dem Impuls, zu dem Auto zu laufen und es zu durchsuchen. Die Mitglieder der Kommission konnten jeden Moment hier draußen auftauchen.
»Gehören diese Land Rover alle zum Ministerium für Geologie?«
»Kein Ahnung. Ich glaube, nicht. Ich habe gesehen, daß der Major einen davon fährt.«
Shan nickte, als habe er mit dieser Antwort gerechnet. »Was wissen Sie über diesen Major?«
»Ein ziemlich einflußreicher Hurensohn, mehr nicht. Er macht mir angst.«
»Wieso gehört er der Kommission an?«
»Weil wir hier so nah an der Grenze sind. Es war eine Bedingung für unsere Satellitenlizenz.«
Der Mann kam Shan irgendwie bekannt vor. Dann fiel es ihm ein, und sein Magen zog sich zusammen. Jigmes Beschreibung des Mannes, der gekommen war, um Sungpo zu holen. Ein Mann mit einem Einschnitt im Gesicht, einer tiefen Narbe. Sein Name, hatte Jigme gesagt, sei Mah Joa gewesen.
»Was ist, wenn es nicht Hu war, der Ihre Betriebserlaubnis außer Kraft setzen wollte?«
»Er hat die Anweisung unterschrieben.«
»Als Direktor der Minen mußte er das auch, aber er hat vielleicht auf fremde Veranlassung gehandelt. Oder um jemandem einen politischen Gefallen zu tun.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Fowler mit plötzlichem Interesse.
»Ich weiß nicht, was ich damit meine.« Er schüttelte mutlos den Kopf. »Ich soll eigentlich Antworten finden, aber ich stoße bloß auf immer mehr Fragen.« Er schaute hinaus auf die Teiche.
Auf den Wällen waren in gemächlichem Tempo Arbeiter mit Schaufeln und Rohrleitungen unterwegs. Yeshe befand sich auf dem Rückweg, und auch Feng kam jetzt zu ihm herüber.
»Hat jemand... haben Sie eine Zeremonie abgehalten? Für Ihre Arbeiter.«
Sie sah ihn erschrocken an. »Das hätte ich fast vergessen... es war ja Ihre Idee, nicht wahr?« Die Nervosität war ihr deutlich anzumerken.
»Ich hätte nicht gedacht, daß es so schnell gehen würde.«
Die Amerikanerin sprang vom Wagen und bedeutete ihm, ihr entlang der Gebäude zu folgen.
»Wer war der Priester, der hergekommen ist?«
»Er hat seinen Namen nicht genannt«, erwiderte Fowler beinahe flüsternd. »Ich glaube, wir sollten absichtlich nicht erfahren, wie er heißt. Ein alter Priester. Sehr merkwürdig.«
»Wie alt?«
»Nicht alt an Jahren. Mittleres Alter. Aber alt an Erfahrung. Irgendwie zeitlos. Spindeldürr. Ein Asket, schätze ich.«
»Und weshalb kam er Ihnen merkwürdig vor?«
»Er wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Seine Augen. Ich weiß nicht. Manchmal schien es, als würde er niemanden sehen. Oder als würde er Dinge sehen, die wir anderen nicht sehen konnten. Und seine Hände.«
»Seine Hände?«
»Er hatte keine Daumen.«
An der Seite des letzten Gebäudes, zum Tal hin, befand sich ein zusammengesetzter Zauberspruch, dessen Größe etwa eine Armeslänge im Quadrat betrug. Er bestand aus komplexen Piktogrammen und Schriftzeichen. Zu beiden Seiten stand je ein Pfosten, an dem Gebetsfahnen hingen.
Yeshe erschien hinter Shan und murmelte etwas vor sich hin. Es klang wie ein Gebet. »Starke Magie«, keuchte er. Er hielt wie zum Schutz seinen Rosenkranz hoch und wich ein Stück zurück.
»Was ist das?« fragte Shan. Er erinnerte sich noch von seinem ersten Besuch her an dieses Gebäude. Ein paar Tibeter waren herausgekommen und hatten auf irgend etwas gewartet.
»Es ist sehr alt und sehr geheim«, flüsterte Yeshe.
»Nein«, wandte Fowler ein. »Es ist nicht alt. Sehen Sie sich doch mal das Papier an. Es ist auf der Rückseite bedruckt.«
»Ich meine, die Zeichen sind alt. Ich kann sie nicht alle lesen. Und selbst dann wäre es mir nicht erlaubt, sie zu rezitieren. Worte der Macht.« Yeshe schien wirklich erschrocken zu sein. »Gefährliche Worte. Ich weiß nicht, wer... die meisten der Lamas, die die Macht besessen haben, solche Worte zu schreiben, sind längst tot. In Lhadrung weiß ich von keinem einzigen.«
»Falls er eine weite Reise hinter sich hatte, muß er aber ziemlich schnell gewesen sein«, sagte sie und sah Shan an.
»Die Alten«, flüsterte Yeshe, auf den der Zauber offenbar nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. »Diejenigen, die über solche Kräfte verfügten. Sie würden sagen, sie hätten das Pfeilritual zum Flug benutzt. Sie konnten zwischen den Dimensionen wechseln.«
Nein, war Shan versucht zu sagen, der Zauber hatte keinen langen Weg hinter sich. Doch eine Reise durch die Dimensionen war vorstellbar.
Fowler grinste verunsichert. »Das sind doch nur Worte.«
Yeshe schüttelte den Kopf. »Es sind nicht nur Worte. Man kann solche Worte nicht schreiben, solange man nicht über die entsprechende Macht verfügt. Nein, Macht ist nicht das richtige Wort. Weitblick. Zugriff auf gewisse Kräfte. Nach der Lehre der alten Schulen würde ich oder jemand anders, der nicht dazu befugt ist, bei dem Versuch, so etwas zu schreiben..« Yeshe zögerte.
»Ja?« fragte Fowler.
»Ich würde in tausend Stücke gerissen.«