Shan trat vor und nahm das Papier genauer in Augenschein.
»Aber was bewirkt es?« fragte Fowler.
»Es geht um den Tod und um Tamdin.«
Sie erschauderte.
»Nein«, berichtigte Yeshe sich. »Das ist nicht ganz richtig. Es ist schwierig zu erklären. Es ist wie ein Wegweiser für Tamdin. Es rühmt seine Taten. Seine Taten sind der Tod. Allerdings ein guter Tod.«
»Ein guter Tod?«
»Ein schützender Tod. Ein transportierender Tod. Es bietet ihm die Hilfe aller Seelen hier an, um einen Pfad zur Erleuchtung zu finden.«
»Ich denke, es geht um den Tod?«
»Tod und Erleuchtung. Manchmal benutzen die alten Priester das gleiche Wort dafür. Es gibt viele verschiedene Arten des Todes. Und viele verschiedene Arten der Erleuchtung.« Yeshe drehte sich kurz zu Shan um, als sei ihm auf einmal klargeworden, was Shan zu ihm gesagt hatte.
»Alle Seelen hier?« fragte Fowler. »Wir?«
»Vor allem wir«, sagte Shan ruhig und ging näher an den Zauberspruch heran.
»Niemand hat mich gefragt, ob ich meine Seele zur Verfügung stellen möchte«, sagte Rebecca Fowler und wollte damit einen Scherz machen. Aber sie lächelte nicht.
Shan fuhr mit den Fingern über das Flickwerk. Es bestand aus dreißig oder vierzig kleinen Papierstücken, die von menschlichem Haar zusammengehalten wurden. Er brauchte nicht auf die Rückseite zu schauen, um festzustellen, daß manche der Blätter aus den Kontrollbüchern der Wachen der 404ten stammten. Er hatte selbst gesehen, wie dieser Zauberspruch angefertigt wurde.
»Und das ist alles, was dieser Priester gemacht hat?« fragte Shan.
»Nein, da war noch etwas. Er hat diesen Schrein auf dem Berg errichten lassen.« Sie wies auf den Schrein, der Shan zuvor bereits aufgefallen war. »Ich soll dort heute nacht hingehen.«
»Warum Sie? Wieso heute nacht?«
Fowler antwortete nicht, sondern führte sie in das Haus, das sich als ein Wohngebäude der Arbeiter erwies. Der erste Raum schien als Erholungszone gedacht zu sein, aber er war leer. In den Regalen stapelten sich Puzzlespiele, Bücher und Schachbretter. Die Stühle und Tische waren beiseite geschoben worden und standen vor den Regalen. In einer leeren Konservendose verbrannte Weihrauch. Ein kleiner Tisch stand genau in der Mitte des Raums. Auf ihm lag ein Bündel, umgeben von flackernden Butterlampen.
»Luntok hat es bei einem der Teiche gefunden«, sagte Fowler. »Ein Geier hatte es dort fallengelassen. Zuerst dachten wir, es würde von einem Menschen stammen.«
»Luntok?«
»Er kommt aus einem dieser alten Dörfer, wo man... Sie wissen schon, Himmelsbegräbnisse. Er fürchtet sich nicht vor solchen Dingen.«
»Kennt er Direktor Hu?« fragte Shan. »Oder den Major? Spricht er mit den beiden?«
»Keine Ahnung«, erwiderte die Amerikanerin verwirrt. »Ich glaube, nicht. Er ist wie die meisten anderen Arbeiter, denke ich. Regierungsbeamte jagen ihnen Angst ein.«
Shan wollte nachhaken und sie fragen, wie es kam, daß Luntok für sie arbeitete, aber sie schien plötzlich nicht mehr imstande zu sein, ihn zu hören. Sorgenvoll starrte sie das Bündel an. »Die Arbeiter sagen, wir müssen es heute nacht zurückgeben.« Ihre Stimme zitterte. »Sie sagen, es sei die Aufgabe des Dorfvorstehers. Und daß ich hier diesen Posten innehabe.«
Shan trat vor und schlug das Bündel auf. Es war eine abgetrennte Hand, eine riesige verkrümmte Hand mit langen, grotesk proportionierten Fingern, die in Krallen endeten, welche von einer dünnen Silberschicht überzogen waren.
Es war die Hand eines Dämons.
Kapitel 12
Kham war eine unermeßlich weite und wilde Landschaft, die nicht nur auf dem Dach der Welt lag, sondern scheinbar auch an deren äußerstem Ende. Es war ein Land, das sich mit aller Macht dagegen zu sträuben schien, gezähmt oder bezwungen zu werden, ein Land, wie Shan es noch nie erlebt hatte. Ein stetiger Wind fuhr über das einsame Hochplateau und verwandelte den Himmel in ein ständig wechselndes Mosaik aus schweren Wolken und leuchtenden blauen Flecken. Als Sergeant Feng wieder einmal anhielt, um seine Karte zu konsultieren, hörte Shan flüchtige, unidentifizierbare Geräusche, als würde der Wind Stimmen und Rufe mit sich tragen, seltsame, abgehackte Laute wie ferne Schmerzensschreie. Es gab Orte, so glaubten manche der alten Mönche, die als Filter für das Leid der Welt fungierten und die Qualen einfingen und festhielten, die kreuz und quer über die Erde trieben. Vielleicht war das hier solch ein Ort, dachte Shan, an dem die Schreie und das Weinen der Millionen sich von unten ansammelten und vom Wind in kleine Geräuschfetzen zerschlagen wurden, wie Kiesel in einem Fluß.
Er wartete, bis sie beinahe sechs Stunden Fahrt hinter sich hatten, bevor er aus einer klapprigen blechüberdachten Werkstatt in der Nähe der Bezirksgrenze bei Tan anrief.
»Wo bist du?« fragte Tan.
»Was wissen Sie über Leutnant Chang von der 404ten?«
»Verdammt, Shan, wohin bist du abgehauen? Es heißt, du seist vor Anbruch der Dämmerung losgefahren. Feng hat nicht angerufen.«
»Ich habe ihn darum gebeten.«
»Du hast ihn gebeten?«
Shan konnte förmlich vor sich sehen, wie Tans Mund sich wütend verzerrte.
»Ich will mit ihm sprechen«, forderte Tan eisig.
»Chang war ein Offizier der Wache. Ich würde gern wissen, was er davor gemacht hat.«
»Laß gefälligst meine Offiziere aus dem..«
»Er hat versucht, uns zu ermorden.«
Er hörte Tan tief durchatmen. »Erzähl es mir«, lautete die barsche Antwort.
Shan erklärte ihm, wie sie Changs Abkürzung eingeschlagen und wie er sie dort aus dem Hinterhalt überfallen hatte.
»Du irrst dich. Er ist ein Offizier der Armee. Sein Verantwortungsbereich liegt bei der 404ten und hat nichts mit Ankläger Jao zu tun. Es würde keinen Sinn ergeben.«
»Gut. Versuchen Sie, ihn bei der 404ten ausfindig zu machen. Vielleicht möchten Sie dann seiner Abkürzung bei der Nordklaue folgen. Es ist ein alter Pfad in nördlicher Richtung, etwa drei Kilometer oberhalb der Abzweigung aus dem Tal. Vom Rand der Klippe aus kann man das Wrack sehen. Wir haben bislang niemandem davon erzählt. Inzwischen werden dort Geier aufgetaucht sein, was Ihnen das Auffinden der Stelle erleichtern dürfte.«
»Und du hast so lange gewartet, um mir davon zu berichten?«
»Anfangs war ich mir nicht sicher. Wie Sie schon sagten, er gehörte zur Armee.«
»Nicht sicher?«
»Ob Sie selbst das Ganze arrangiert hatten.« Tan schwieg. »Es wäre vielleicht ganz verlockend gewesen«, erläuterte Shan, »falls Sie beschlossen hätten, doch keine eigene Akte anzulegen.«
»Was hat deine Meinung geändert?« fragte Tan sachlich, als erschiene ihm Shans Argumentation plausibel.
»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich glaube nicht, daß Sie Sergeant Feng umbringen würden.«
Vom anderen Ende hörte Shan ein gedämpftes Gespräch. Tan erteilte Madame Ko einige knappe Anweisungen. Als er sich wieder an Shan wandte, hatte er eine Information anzubieten. »Chang hatte gestern dienstfrei. Er war auf eigene Faust unterwegs.«
»Er ist von ganz allein auf die Idee gekommen, uns umzubringen? Als kleiner Zeitvertreib an seinem freien Tag?«
Tan seufzte. »Wo bist du?«
»Alle anderen Spuren sind kalt. Ich werde Jaos Fahrer finden. Ich glaube, er ist am Leben.«
»Wenn du den Bezirk verläßt, giltst du als entflohener Strafgefangener.«
Shan erzählte ihm von den Unterlagen, die sie in der Garage gefunden hatten, und weshalb das bedeutete, daß er Balti aus findig machen mußte. »Falls ich vorher um Erlaubnis gebeten hätte, wären entsprechende Vorbereitungen getroffen worden. Etwas davon wäre vielleicht den Hirten im Osten zu Ohren gekommen, und jede noch so kleine Chance, Balti zu finden, wäre dahin gewesen.«
»Du hast auch dem Justizministerium nichts erzählt?«