»Kein Wort. Ich handle auf eigene Verantwortung.«
»Also weiß Li nichts davon.«
»Es kam mir der Gedanke, daß es für uns womöglich recht vorteilhaft wäre, mit Jaos Fahrer zu sprechen, ohne dazu die Unterstützung des stellvertretenden Anklägers in Anspruch zu nehmen.«
Während der nachfolgenden Stille, die von Tans Unschlüssigkeit zeugte, beschloß Shan, dem Oberst von der Hand zu erzählen. Es war ein öffentliches Telefon und wurde daher höchstwahrscheinlich nicht abgehört. Die Hand des Dämons, die Rebecca Fowlers Arbeiter so sehr in Angst und Schrecken versetzt hatte, war hervorragend gearbeitet. Ein flüchtiger Betrachter hätte mühelos zu der Überzeugung gelangen können, daß es sich dabei um nichts weniger als um die verwelkten Überreste einer Kreatur aus Fleisch und Blut handelte. Doch Shan hatte der Amerikanerin gezeigt, daß die Sehnen der Hand in Wirklichkeit aus Leder bestanden, das kunstvoll über Kupferbändern vernäht worden war. Die rosafarbene Handfläche war aus verblichener roter Seide gefertigt. Als Shan die Hand anhob, baumelten die Finger schlaff in alle Richtungen.
»Du sagst, du hast ein Teil von dem Tamdin-Kostüm gefunden«, stellte Tan angespannt fest.
»Von dem Kostüm, das laut Direktor Wen nirgendwo fehlt.« Shan hatte seinem Block bereits eine entsprechende Notiz hinzugefügt. Überprüfe die Bestandsverzeichnisse des Büros für Religiöse Angelegenheiten.
»Vielleicht hat eines in irgendeinem Versteck gelegen.«
»Das glaube ich nicht. Diese Kostüme waren dermaßen selten und wertvoll, daß sie bestimmt alle erfaßt worden sind.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, daß jemand lügt.«
Es herrschte kurz Schweigen. »Einverstanden. Bring den Fahrer lebend zurück. Falls du in achtundvierzig Stunden noch nicht wieder hier bist, hetze ich dir die Öffentliche Sicherheit auf den Hals«, knurrte der Oberst und legte auf.
Patrouillen. Falls es nicht gut lief, konnte Tan noch immer aufgeben. Li würde Sungpo anklagen, der Fall würde abgeschlossen werden, und die 404te würde ihre Strafe erhalten. Tan konnte die eigene Untersuchung einfach dadurch beenden, indem er Shan zum Flüchtling erklärte. Alles, was eine Streife der Öffentlichen Sicherheit zurückbringen mußte, war die Tätowierung auf Shans Arm.
Falls Shan überdies volle zwei Tage benötigte, würden ihm nur vier weitere Tage bis zu Sungpos Verhandlung bleiben. Zwei Tage. Balti vom Dronma-Klan hatte eine ganze Woche Zeit gehabt, um sich in Kham zu verstecken. Doch zum Glück bestand Shans Aufgabe nicht aus dem unmöglichen Unterfangen, einen einzelnen Mann inmitten der knapp vierhunderttausend Quadratkilometer des schwierigsten Terrains nördlich der Antarktis aufzuspüren. Er mußte lediglich Baltis Klan finden, und das war immerhin nur äußerst unwahrscheinlich, aber nicht völlig undenkbar. Für einen khampa würde der sicherste Ort stets im Schoß seiner Familie liegen.
Als sie weiterfuhren, wandte Shan sich an Yeshe. »Ich bin Ihnen dankbar. Wegen der ragyapas.«
»Es war nicht allzu schwierig, nachdem ich erstmal all diese Armeesocken entdeckt hatte.«
»Nein, ich meine etwas anderes. Danke, daß Sie dem Direktor nichts erzählt haben. Sie hätten damit Pluspunkte sammeln können, und es hätte sich gut in Ihrer Akte gemacht. Vielleicht hätte es Ihnen sogar zu Ihren Reisepapieren verholfen.«
Yeshe schaute hinaus auf das scheinbar endlose Plateau, das an ihnen vorüberzog. »Man hätte das Dorf gestürmt. All diese Kinder.« Er zuckte die Achseln. »Und vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht haben sie die Vorräte völlig legal erhalten. Vielleicht«, sagte er und drehte sich zu Shan, »haben sie die Sachen als Bezahlung für die Zaubersprüche bekommen.«
Shan nickte langsam. »Jemand vom Militär, der Angst davor hat, Tamdin zu beleidigen?« fragte er sich laut und reichte Yeshe dann den Umschlag mit den Fotos aus der Schädelhöhle, den Rebecca Fowler ihm gegeben hatte. »Sehen Sie sich die mal an.«
Yeshe öffnete den Umschlag. »Wonach soll ich suchen?«
»Zunächst mal nach einem Muster. Ich kann den alten tibetischen Text nicht lesen. Sind das bloß die Namen?«
Yeshe runzelte die Stirn. »Das ist einfach. Die Schädel sind nach dem Datum sortiert, und zwar nach dem traditionellen tibetischen Kalender«, sagte er und bezog sich damit auf das System aus Sechzigjahreszyklen, das vor tausend Jahren begonnen hatte. »Das Schild vor jedem der Schädel gibt über das Jahr und den Namen Auskunft. Der erste...«, Yeshe hielt das Foto dichter an die Scheibe, um das Sonnenlicht auszunutzen, »... der erste stammt aus dem Jahr des Erdpferdes im Zehnten Zyklus.«
»Wie lange ist das her?«
»Der Zehnte Zyklus hat Mitte des sechzehnten Jahrhunderts begonnen. Das Jahr des Erdpferdes ist das zweiundfünfzigste Jahr eines Zyklus.« Yeshe hielt inne und warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu. Shan mußte an die bereits ausgeräumten, leeren Regale denken. Der Schrein ging sehr viel weiter als bis zum sechzehnten Jahrhundert zurück.
Yeshe nahm die nächsten paar Fotos. »Die Folge setzt sich fort. Zehnter Zyklus, Jahr des Eisenaffen, Jahr der Holzmaus, weitere zehn oder zwanzig Schädel und dann der Elfte Zyklus.«
»Dann können Sie vielleicht herausfinden, was mit dem Schädel geschehen ist, der für Jaos Kopf weichen mußte.«
»Weshalb sollte man ihn nicht einfach weggeworfen haben?«
»Vermutlich war es so. Ich möchte mich lediglich vergewissern.«
Feng verringerte die Geschwindigkeit, um zwei Jungen und deren Schafherde passieren zu lassen. Die Hirten hielten ihre Schützlinge nicht mit Hilfe von Hunden, sondern mittels Steinschleudern zusammen. Während Shan ihnen zusah, erschien vor seinem inneren Auge immer wieder die Hand. Die Beschädigungen waren gravierender, als daß sie allein durch die Abtrennung oder auch durch den Sturz entstanden sein konnten, nachdem der Geier die Hand fallengelassen hatte. Die zierlichen Scharniere, aus denen die Knöchel bestanden, waren zerschmettert worden. Auch die Fingerspitzen hatte man zertrümmert und dadurch die feinen Filigranarbeiten vernichtet. Jemand hatte die Hand mit voller Absicht zerstört, zum Beispiel im Verlauf eines Kampfes mit Tamdin. Oder bei einem Wutanfall, um vielleicht den weiteren Gebrauch des Kostüms zu verhindern. Hatte Balti gegen dieses Ding gekämpft und die Hand beschädigt? Hatte Jao die Schäden verursacht, als er an dem Berghang um sein Leben rang?
Feng sprach die vereinzelten Hirten an, die hin und wieder am Straßenrand entlanggingen, und fragte sie nach dem Klan, der in Baltis offizieller Akte aufgeführt war, dem Dronma-Klan. Jeder der Männer reagierte voller Argwohn und behielt die Waffe am Gürtel des Sergeanten im Auge. Die meisten zogen sofort ihre Ausweise hervor, sobald der Wagen das Tempo verlangsamte, und fuchtelten mit den Händen vor dem Gesicht herum, um anzuzeigen, daß sie kein Mandarin sprachen.
»Er ist da!« rief Yeshe aufgeregt, als sie nach der fünften dieser Begegnungen wieder aufbrachen.
Shan fuhr herum. »Der Schädel?«
Yeshe nickte heftig und hielt eines der Fotos hoch. »Die Schädel rund um das einzelne leere Regalbrett stammen aus dem späten Vierzehnten Zyklus. Auf einer Seite das Jahr des Eisenaffen und dann auf der anderen Seite das Jahr des Holzochsen, das neunundfünfzigste Jahr, was inzwischen etwa hundertvierzig Jahre her ist. Der letzte Schädel auf dem Regal und in dieser Reihenfolge ist achtzig Jahre alt und stammt aus dem Jahr des Erdschafes im Fünfzehnten Zyklus. Abgesehen vom allerletzten Schädel, ganz unten. Der stammt aus dem Vierzehnten Zyklus, dem Jahr des Wasserschweins.«
Yeshe schaute mit zufrieden funkelndem Blick auf. »Das Wasserschwein ist das siebenundfünfzigste Jahr und liegt zwischen Eisenaffe und Holzochse!« Er zeigte Shan die Fotos und wies auf die tibetischen Schriftzeichen, mit denen die Jahresangabe bezeichnet wurde. Der fehlende Schädel war samt der dazugehörigen Tafel und den Lampen ehrfurchtsvoll auf dem letzten Regalbrett aufgestellt worden.