Die Aufregung legte sich schnell. Shan und Yeshe tauschten einen besorgten Blick aus. Diese Umbettung des Schädels war nicht die Tat eines Plünderers oder tollwütigen Mörders. Es entsprach eher dem, was ein Mönch, ein wahrhaft Gläubiger, tun würde.
Feng bremste den Wagen ab. Vor ihnen ging ein alter Mann auf der Straße. Er reagierte auf Shans Frage, indem er eine zerrissene Karte der Region aus der Tasche zog. Die Karte war gesetzwidrig, denn auf ihr waren die alten Grenzen Tibets vermerkt. Eilig beugte Shan sich vor, um Feng die Sicht auf die Karte zu versperren.
»Bo Zhai«, sagte der alte Mann und wies auf ein Gebiet, das etwa achtzig Kilometer östlich von ihnen lag. »Bo Zhai.« Shan bedankte sich bei ihm mit einer Schachtel Rosinen aus den Vorräten, die Feng hastig zusammengepackt hatte. Der Mann wirkte überrascht. Schweigend starrte er die Schachtel an und beschrieb dann mit seiner Hand eine stolze, herausfordernde Geste über der östlichen Hälfte der Karte, die ein riesiges Gebiet umfaßte. »Kham«, verkündete er und bog dann von der Straße auf einen Ziegenpfad ab.
Der größte Teil des Territoriums, auf das er gedeutet hatte, war von Peking aufgeteilt und den Nachbarprovinzen zugeschlagen worden. Daher kam es, daß die Provinzen Gansu, Qinghai, Sichuan und Yunnan über einen beträchtlichen tibetischen Bevölkerungsanteil verfügten. Sichuan zum Beispiel umfaßte die tibetischen Präfekturen von Aba und Garze sowie den Bezirk Muli. Dahinter stand die Absicht, die nomadische Lebensart der Hirten von Kham zu untergraben, denn eine Aufenthaltsgenehmigung galt stets nur in einem einzigen Distrikt, und Reisepapiere wurden solchen Leuten nur höchst selten bewilligt. Es war außerdem eine Bestrafung für die entschieden antisozialistische Gesinnung der Region. Die Kham-Guerillas hatten länger und härter gegen die Volksbefreiungsarmee gekämpft als irgendeine andere Minderheit in China. Sogar in der 404ten hatte Shan Geschichten über Widerstandskämpfer gehört, die noch immer die östlichen Berge durchstreiften, Straßen sabotierten und kleine Patrouillen angriffen, um dann wieder im unzugänglichen Gebirge zu verschwinden.
Als sie das Büro des Landwirtschaftskollektivs von Bo Zhai erreichten, war es bereits mitten am Nachmittag. Die Ansammlung ärmlicher Gebäude war aus Schlackeblöcken und Wellblech errichtet worden und lag inmitten von Gerstenfeldern. Die Leiterin, die eindeutig nicht an unangemeldete Besucher gewöhnt war, musterte die drei Männer unsicher. »Während der Erntezeit bieten wir für das Landwirtschaftsministerium Besichtigungsfahrten an«, schlug sie vor.
»Wir ermitteln in einem Kriminalfall«, erklärte Shan geduldig und streckte ihr einen Zettel entgegen, auf den der Name von Baltis Klan geschrieben war.
»Wir sind nur unwissende Hirten«, sagte sie ein wenig zu unterwürfig. »Einmal hat ein Unruhestifter aus Lhasa sich in den Hügeln versteckt. Da haben wir die örtliche Miliz verständigt.« Hinter ihr hing ein verblichenes Poster an der Wand, auf dem junge Proletarier stolz die Fäuste emporreckten. Vernichtet die Vier Alten, stand am unteren Rand geschrieben. Das war eine Kampagne während der Kulturrevolution gewesen, und als die Vier Alten hatte man alte Denkmuster, alte Kultur, alte Gewohnheiten und alte Bräuche bezeichnet. Die Roten Garden hatten die Häuser der Minderheiten gestürmt, die traditionellen Kleidungsstücke zerstört, die als Familienerbe oft schon seit Generationen weitergegeben worden waren, die Einrichtungsgegenstände verbrannt und sogar den Frauen die Zöpfe abgeschnitten.
»Wir haben keine Zeit«, sagte Yeshe.
Die Frau sah ihn starr an.
»Sie haben natürlich recht«, stimmte Shan ihr zu. »In unserem Fall müßte man eigentlich zuerst das Büro für Öffentliche Sicherheit verständigen und den Leuten dort mitteilen, daß wir hier warten. Das Oberkommando des Büros würde sich daraufhin mit dem Landwirtschaftsministerium in Verbindung setzen und dafür sorgen, daß eine Kompanie Soldaten des Büros zu unserer Unterstützung abgestellt werden kann. Dürfte ich vielleicht Ihr Telefon benutzen?«
Der herausfordernde Gesichtsausdruck der Frau verschwand sofort. »Es ist bestimmt nicht nötig, die Mittel des Volkes über Gebühr zu beanspruchen«, sagte sie seufzend. Sie nahm den Zettel, den Shan ihr entgegenstreckte, und holte ein abgewetztes Hauptbuch hervor. »Gehört nicht zu unserer Produktionseinheit«, teilte sie ihnen ein paar Minuten später mit. »Kein Dronma-Klan.«
»Wie viele dieser Einheiten gibt es denn?«
»In unserer Präfektur sind es siebzehn. Außerdem könnten Sie die Provinzen Sichuan, Gansu und Qinghai überprüfen. Und dann sind da noch die zweifelhaften Elemente aus dem Hochgebirge. Die haben sich nie registrieren lassen.«
»Nein«, sagte Yeshe. »Falls seine Familie nicht registriert gewesen wäre, hätte er niemals die Freigabe für seine Anstellung erhalten.«
»Und seine Arbeitspapiere stammen daher höchstwahrscheinlich auch nicht aus einer anderen Provinz«, fügte Shan hinzu.
»Stimmt.« Yeshes Gesicht hellte sich auf. »Verfügt denn nicht irgend jemand über eine Hauptliste, nur für diese Präfektur?«
»Dezentralisierung für maximale Produktion.« Die Frau sprach nun mit einer vertrauten, antiseptischen Stimme, der Stimme für die Fremden, deren Tonfall darauf abgestimmt war, nur noch das zu rezitieren, was auf den Bannern zu lesen stand oder aus den Lautsprechern drang.
»Ich habe außerdem gehört, daß wir uns keine Sorgen mehr wegen schwarzer oder weißer Katzen machen, sondern uns lieber darauf konzentrieren sollten, Mäuse zu fangen«, sagte Shan.
»Wir wären gar nicht dazu befugt, eine solche Liste zu führen«, erwiderte die Frau nervös. »Das Büro des Ministeriums liegt in Markam. Wenn es eine Hauptliste gibt, dann dort.«
»Wie lange fährt man bis dorthin?«
»Sechzehn Stunden. Vorausgesetzt, es gibt weder einen Erdrutsch noch ein Hochwasser oder irgendwelche Manöver des Militärs.« Die Frau runzelte die Stirn und ging zu einem staubbedeckten Regal an der Rückwand des Büros. »Ich habe hier lediglich die Namen derjenigen Angehörigen aller Produktionseinheiten, die aufgrund guter Leistungen ausgezeichnet worden sind. Zumindest während der letzten fünf Jahre.« Sie überreichte Yeshe einen Stapel verstaubter spiralgebundener Bücher.
»Das ist doch wie die Suche nach einem einzelnen Reiskorn in...«, setzte Yeshe an.
»Nein, vielleicht nicht«, unterbrach sie ihn und schien sich zum erstenmal für die Aufgabe zu erwärmen. »Die meisten der alten Klans wurden in ungefähr sechs Kollektiven zusammengefaßt. Man hielt sie für das größte politische Risiko und wollte sie besser im Auge behalten können. Suchen Sie einfach nach dem Namen des Klans.«
»Und falls wir das betreffende Kollektiv feststellen können?«
»Dann geht die Suche erst richtig los. Es ist Frühling, und die Herden sind in Bewegung.«
Nach einer halben Stunde hatten sie drei Kollektive mit Angehörigen des Dronma-Klans herausgefunden. Eines lag mehr als dreihundert Kilometer von ihnen entfernt. Beim zweiten, fast hundertsechzig Kilometer weit weg, ging jemand nach dem zwanzigsten Klingeln ans Telefon. Der Mann kannte den Namen. »Alter Klan, nicht viele übrig. Bleibt dicht bei den Herden. Sind Tierfänger.« Der Mann sprach mit einem städtischen Shanghaier Akzent, der irgendwie fehl am Platz wirkte. »Nur ein halbes Dutzend Erwachsener, drei davon über sechzig Jahre alt. Einer der anderen hat bei einem Reitunfall ein Bein verloren.«
Beim dritten Kollektiv, keine fünfundzwanzig Kilometer entfernt, teilte man ihnen am Telefon mit, es gäbe dort mehr Angehörige des Dronma-Klans als Schafe auf den Hügeln.
Shan nahm seine Landkarte und markierte die Lage der drei Kollektive. Die Zeit reichte nur für einen Versuch.
Er ging nach draußen, als könnte der Wind ihm eine Antwort zuwehen. Eine alte Frau ritt auf einem Pony vorbei und hielt ein Schwein im Arm, als wäre es ein kleines Kind. Plötzlich hielt Shan inne und rannte dann wieder hinein. »Wir fahren hierhin«, verkündete er und wies auf das zweite Kollektiv.