Es war keine Menschenseele zu sehen. Hinter den Zelten flatterten Gebetsfahnen. Butterfässer standen herum. Dicht neben den Unterkünften hatte man getrockneten Dung aufgeschichtet. Auf der anderen Seite des Lagers stand eine kleine Herde Yaks und weidete das Frühlingsgras ab. Daneben graste eine Ziege, die nicht angebunden war und ein schmales Band am Ohr trug. Sie war freigekauft worden. Am Eingang des größten Zeltes hing über einem Rahmen aus Weidenruten, in den man mit Garn geometrische Muster geflochten hatte, der Schädel eines Schafes. Shan hatte gesehen, daß die khampas der 404ten die gleichen Muster aus den Fäden ihrer Decken flochten. Es war eine Geisterfalle.
Bei den angeleinten Ziegen bellte ein Hund, ein angepflockter Welpe, der auf einmal vorsprang und ein Butterfaß umwarf. Aus einem Schaffellbündel neben dem ersten Zelt ertönte das Geschrei eines Babys, und im selben Moment stürzten die Bewohner des Zeltes nach draußen. Zuerst erschienen zwei Männer, von denen einer eine Schaffellweste trug und der andere eine schwere chuba, den dicken Übermantel aus Schaffell, den viele tibetische Nomaden bevorzugten. Hinter ihnen konnte Shan mehrere Frauen entdecken, die zusammengestückelte Überkleider trugen, deren einst leuchtende Farben inzwischen durch Ruß und zähen Schmutz gedämpft wurden. Ein Kind, ein Junge von höchstens drei Jahren, kam ebenfalls heraus. Sein Kinn und sein Mund waren mit Joghurt verschmiert.
Der Mann mit der Weste, dessen ledriges Gesicht voller kleiner Falten war, nickte den Neuankömmlingen mürrisch zu, verschwand dann wieder im Zelt und kehrte mit einem fleckigen Umschlag voller Papiere zurück. Er streckte ihn Shan entgegen.
»Wir sind nicht hier, um die Geburten zu überprüfen«, sagte Shan peinlich berührt.
»Sie möchten Wolle kaufen? Es ist zu spät. Wolle gab es letzten Monat.« Der Mann hatte nur noch die Hälfte seiner Zähne. Mit einer Hand umklammerte er ein silbernes gau, das um seinen Hals hing.
»Wir sind auch nicht wegen der Wolle hier.«
Aus seiner Jackentasche holte Shan eine Süßigkeit hervor, die in Zellophan gewickelt war, und bot sie dem Kind an. Der Junge kam vorsichtig näher, schnappte sich die Süßigkeit und rannte an seinen Platz zwischen den beiden Männern zurück. Der Mann mit der chuba nahm dem Jungen das Geschenk ab, roch daran, hielt es sich an die Zunge und gab es dem Kind dann wieder. Der Kleine quietschte verzückt auf und lief ins Zelt. Der Mann nickte, als wolle er sich bedanken, aber das Mißtrauen auf seinem Gesicht ließ nicht nach. Er trat beiseite und bedeutete ihnen, ins Zelt mitzukommen.
Im Innern war es überraschend warm. Auf einer Seite war mit einem Vorhang aus Yakfell, dem gleichen Material, aus dem auch das eigentliche Zelt bestand, ein kleiner Ankleideraum abgeteilt worden. Ein alter Teppich, der früher einmal rot und gelb gewesen war, inzwischen aber nur noch schmutzigbraune Schattierungen aufwies, diente den Bewohnern als Boden, Schlafstätte und Sitzgelegenheit. In der Mitte stand ein eisernes Dreibein, an dem ein großer Kessel über der glimmenden Asche eines Holzfeuers hing. Auf einem kleinen hölzernen Tisch, der mit einigen Haken und Scharnieren versehen war, so daß man ihn bei einer Verlegung des Lagers auseinandernehmen konnte, standen zwei Räuchervasen und eine kleine Glocke. Der Altar der Leute.
Auf der anderen Seite des Altars kauerten wachsam wie Rehe zehn khampas, als würde der kleine Tisch ihnen Schutz bieten.
Die sechs Frauen und vier Männer, die anscheinend vier verschiedenen Generationen angehörten, trugen dicke, schmutzige Wollhemden, Schürzen mit verblichenem rotbraunen Streifenmuster sowie schwere chubas, die offenbar schon viele Stürme überstanden hatten. Ein Kind von etwa sechs Jahren, um dessen Körper ein Stück Yakfilz geschlungen war, das von einer Schnur zusammengehalten wurde, löste sich aus der Gruppe; eine der Frauen packte es sofort und zog es an sich, wobei sie Shan einen verzweifelten Blick zuwarf. Der einzige Schmuck, den die Frauen trugen, waren Halsketten aus kleinen Silbermünzen, zwischen die man vereinzelt rote und blaue Perlen eingefügt hatte. Alle Gesichter, die männlichen ebenso wie die weiblichen, waren rund, mit hohen Wangenknochen und intelligenten, verängstigten Augen. Die Haut der Leute war vom Rauch geschwärzt, und ihre Hände waren voller Schwielen. An einer Zeltstange im Hintergrund lehnte eine gebrechliche grauhaarige Frau.
Es herrschte Totenstille, und alle Anwesenden starrten den Besuchern quer durch die verräucherte Kammer entgegen. Der Mann mit der Weste, der mittlerweile das Baby in dessen Schaffellkokon auf den Arm genommen hatte, trat ein und stieß nur eine einzige Silbe aus. Die khampas wichen langsam auseinander. Während die Männer sich rund um das Dreibein niederließen, gingen die Frauen zu drei großen Holzklötzen hinüber, auf denen Kochutensilien lagen. Der Mann, offenbar ein Klanführer, bedeutete seinen Gästen mit einer Geste, auf dem Teppich Platz zu nehmen.
Die Frauen brachen Stücke aus einem großen Block schwarzen Tees und ließen sie in den Kessel fallen. Die Männer waren sich nicht sicher, was sie sagen sollten, und mußten andererseits den traditionellen Pflichten der Gastfreundschaft nachkommen, also sprachen sie von ihren Herden. Ein Mutterschaf hatte Drillinge zur Welt gebracht. Der Mohn auf den Südhängen sei diesmal besonders üppig gewachsen, sagte einer, was bedeutete, daß die Kälber in diesem Jahr besonders stark sein würden. Ein anderer fragte, ob die Besucher vielleicht Salz mitgebracht hätten.
»Ich bin auf der Suche nach dem Dronma-Klan«, sagte Shan und nahm eine Schale gebutterten Tee entgegen. Auf dem Tisch bemerkte er eine gerahmte Fotografie, die mit dem Bild nach unten lag, als habe man sie hastig umgekippt. Als er sich vorbeugte, fiel ihm auf, daß der Vorhang am Ende des Zeltes sich bewegte.
»Es gibt viele Klans in den Bergen«, sagte der alte Mann. Er rief nach mehr Tee, als wolle er Shan ablenken.
Shan nahm das Foto. Eine der Frauen sagte mit drängendem Unterton etwas im Dialekt der khampa, und die jüngeren Männer schienen erschrocken innezuhalten. Das Bild ragte ein Stück aus dem Rahmen heraus. Es war der Vorsitzende Mao. Darunter befand sich ein weiteres Foto, denn unter Mao waren die Perlen einer Gebetskette und ein rotes Gewand sichtbar. Es war in Tibet allgemein üblich, an auffälliger Stelle ein Bild des Dalai Lama anzubringen, damit das Heim gesegnet wurde, und es dann schnell hinter Mao zu verbergen, wenn offizieller Besuch eintraf. Noch vor einigen Jahren hätte allein der Besitz eines Fotos des Dalai Lama mit Sicherheit zu einer Haftstrafe geführt. Während die Frau auch Feng geräuschvoll mit Tee versorgte, schob Shan das Mao-Bild ganz nach unten, um das geheime Foto vollständig zu verbergen. Dann stellte er den Rahmen auf den Tisch, so daß das Bild von ihnen weg wies.
Er ließ sich auf dem Teppich nieder und nahm dabei mit übergeschlagenen Beinen den Lotussitz ein, der von den Einheimischen bevorzugt wurde. Während der Kampagne zur Vernichtung der Vier Alten hatte man den Tibetern verboten, so zu sitzen. »Dieser besagte Klan hat einen Sohn namens Balti«, fuhr Shan fort. »Er hat in Lhadrung gearbeitet.«
»Hierzulande bleiben die Familien unter sich«, sagte der Hirte. »Wir wissen nicht viel über die anderen Klans.« Die khampas starrten gereizt zu Boden und schauten ins Feuer. Shan wußte, weshalb sie nervös waren. Kein Chinese ließ sich hier blicken, der nicht entweder Wolle kaufen oder die Anzahl der Geburten kontrollieren wollte. Shan trank seine Schale leer, stand auf und ließ den Blick über die khampas schweifen. Niemand sah ihn an. Er ging zu dem Vorhang und zog ihn beiseite.
Dahinter saßen zwei junge Frauen. Sie waren schwanger.