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Shan kramte in der Tasche herum, die Yeshe aus dem Wagen mitgebracht hatte, und fand einen überreifen Apfel, der schon ganz braun war. Der Mann nahm das Obst stirnrunzelnd entgegen. Dann hellte sein Gesicht sich auf. »Touristen? Auf dem Berg ist ein Platz mit großer Macht. Ich kann euch hinbringen, auf einem geheimen Pfad. Geht dorthin, sprecht Gebete. Wenn ihr nach Hause kommt, werdet ihr Babies machen. Funktioniert immer. Fragt Pemu«, fügte er mit heiserem Lachen hinzu.

»Wir sind auf der Suche nach Ihrem Bruder. Wir wollen ihm helfen.«

Der unbeschwerte Gesichtsausdruck des Mannes verschwand. »Ich habe keinen Bruder. Mein Bruder ist von dieser Welt gegangen. Es ist zu spät, um Balti zu helfen.«

Shans Mut sank. »Balti ist gestorben?«

»Kein Balti mehr«, sagte Harkog und klopfte sich mit der Faust vor die Stirn, als verspürte er großen Kummer.

Pemu schlug die Zeltklappe auf. Im Innern saß eine entfernt menschliche Gestalt, die leere Hülle eines Mannes mit ausgemergeltem Gesicht und den schwarzgeränderten Augenhöhlen eines Totenschädels. »Nur sein Körper ist hier«, sagte Harkog. »Es ist nicht viel von ihm übrig, seit ein paar Tagen schon. Er bleibt wach. Tag und Nacht, mit nichts als den Mantras.« Er musterte den Rosenkranz, der an Yeshes Gürtel hing. »Heiliger Mann?« fragte er mit neuem Interesse.

Yeshe erwiderte nichts, trat aber näher an das Zelt heran. »Balti Dronma. Wir müssen mit Ihnen sprechen.«

Der Bruder erhob keine Einwände, als Shan und Yeshe das Zelt betraten und sich hinsetzten.

Pemu folgte ihnen. »Er ist ja mehr tot als lebendig«, flüsterte sie entsetzt.

»Wir haben Fragen«, sagte Shan ruhig. »Über jene Nacht.«

»Nein«, protestierte Harkog. »Er war bei mir. In all diesen Nächten.«

»Welche Nächte?« fragte Shan.

»In allen Nächten, die gemeint sein könnten.«

»Nein«, erwiderte Shan geduldig. »Die letzte Nacht in Lhadrung hat er mit Ankläger Jao verbracht. Als Jao ermordet wurde.«

»Ich weiß nichts von einem Mord«, murmelte Harkog.

»Der Ankläger. Jao. Er wurde ermordet.«

Harkog schien ihn nicht zu hören. Er starrte seinen Bruder an. »Er ist gerannt. Er ist gerannt und gerannt. Wie ein Schakal ist er gerannt. Tagelang ist er gerannt. Dann eines Morgens sehe ich ein Tier unter einem Felsen. Riecht wie eine sterbende Ziege, hat der Hund gesagt. Ich habe meinen Arm ausgestreckt und Balti hervorgezogen.«

»Wir sind aus Lhadrung hergekommen, weil wir wissen müssen, was er in jener Nacht gesehen hat.«

»Sprich ein Mantra«, sagte Harkog plötzlich zu Yeshe. »Schütze ihn vor den Dämonen, während er schläft. Ruf seine Seele zurück, damit er sich ausruhen kann. Danach wird er vielleicht sprechen.«

Yeshe entgegnete nichts, schob sich aber unbeholfen auf den Platz neben Balti.

Zufrieden verließ Harkog das Zelt.

»So wie du mein Baby gesegnet hast«, sagte Pemu zu Yeshe.

Und wieder warf er Shan einen flehentlichen Blick zu. »Es tut mir leid«, sagte er zweimal, erst zu Shan, dann zu der Frau. »Ich bin nicht in der Lage, das zu tun.«

»Ich weiß noch, was die Frau bei der Garage gesagt hat«, erinnerte Shan ihn. »Die Kräfte sind nicht geschwunden, sie haben nur ihren Mittelpunkt verloren.«

Pemu drückte sich den Rücken seiner Hand an die Stirn.

Yeshe stöhnte leise auf. »Warum?«

»Weil er stirbt.«

»Und ich soll ein Wunder vollbringen?«

»Die Medizin, die dieser Mann braucht, kann ihm kein Arzt geben«, sagte Shan.

Pemu hielt weiterhin Yeshes Hand. Er blickte sie mit einem neuen Ausdruck der Klarheit an. Vielleicht, dachte Shan, war das Wunder bereits unterwegs.

Shan setzte sich mit dem Hirten draußen hin und sah Pemu dabei zu, wie sie das Feuer anfachte und Tee zubereitete. Ein Donnerschlag ließ die Luft um sie herum erzittern, und ein Regenvorhang kam das Tal hinauf auf sie zu. Während Harkog eine schützende Plane über der Feuerstelle errichtete, erklang aus dem Innern des Zeltes der Beginn einer Litanei.

Shan lauschte dem eintönigen Brummen von Yeshes Stimme eine Stunde lang und ging dann los, um Feng und ihre Vorräte aus dem Wagen zu holen. Als sie vom Fahrzeug aufbrachen, hielt der Sergeant auf einmal inne und rannte zurück. »Ich muß den Wagen verstecken«, sagte er über die Schulter gewandt. Er sagte nicht, vor wem.

Als sie oben eintrafen, hatte der Regen aufgehört. Yeshe befand sich noch genau da, wo Shan ihn zurückgelassen hatte. Er saß vor Baltis Lager und wiederholte immer wieder das Schutzmantra, und er würde nicht damit aufhören, bis die Tat vollbracht war. Niemand, nicht einmal Yeshe wußte, wann dieser Zeitpunkt gekommen sein würde.

Als die Sonne unterging, sammelten sie Feuerholz und kochten einen Eintopf. Als der Himmel wieder aufklarte, aßen sie schweigend, und während der ganzen Zeit drang aus dem Zelt Yeshes eintönige Stimme an ihre Ohren. Shan saß bei Pemu und beobachtete, wie der Vollmond über den östlichen Himmel wanderte. In einiger Entfernung schrie ein einsamer Ziegenmelker. Nebelschwaden krochen die Hänge hinab. Feng legte sich mit einer Decke nieder und schnarchte binnen weniger Minuten. Yeshes Stimme brummte weiter vor sich hin. Pemu fand ein Schaffell, wickelte sich darin ein und starrte ins Feuer. Am Rand des flackernden Lichtkreises saßen Harkog und Pok der Hund und schauten in die Dunkelheit. Yeshes Litanei dauerte nun schon fast sechs Stunden.

Shan fühlte sich von allem losgelöst. Von dem Bösen, das in Lhadrung lauerte. Von dem Gulag, in das er zurückkehren würde. Sogar der allgegenwärtige Arm von Minister Qin und Peking schienen in diesem Moment Teil einer anderen Welt zu sein.

Aus seiner Tasche holte Shan das Reispapier und den Tintenstift, die er auf dem Markt gekauft hatte. Es war schon so lange her. So viele Festtage waren ungenutzt verstrichen. Er rieb den Stift und rührte mit ein paar Tropfen Wasser in einem gekrümmten Stück Rinde die Tinte an. Dann übte er und zog mit dem Pinsel kleine Striche in die Luft, überlegte sich vorher genau, was er schreiben wollte, bis er schließlich das Blatt vor sich hinlegte und mit der Arbeit begann. Er bediente sich der eleganten alten Ideogramme, die er als Junge gelernt hatte.

Lieber Vater, begann er, bitte verzeih mir, daß ich schon seit so vielen Jahren nicht mehr geschrieben habe. Seit meinem letzten Brief bin ich zu einer langen Reise aufgebrochen. Meine Seele schrie nach Nahrung. Dann traf ich einen weisen Mann, der diesen Hunger stillte. Die Pinselstriche mußten kühn und flüssig erfolgen, oder sein gelehrter Vater wäre enttäuscht. Wenn ein Wort richtig geschrieben ist, pflegte sein Vater zu sagen, dann sollte es wie Wind über einem Bambusfeld aussehen. Anfangs war ich traurig und ängstlich. Doch inzwischen ist die Trauer verflogen. Und Angst habe ich nur noch vor mir selbst. Früher, ganz allein in seiner Wohnung in Peking, hatte er oft Briefe geschrieben. Er las die Ideogramme ein weiteres Mal durch, war aber noch nicht zufrieden. Ich sitze auf einem namenlosen Berg, werde vom Nebel eingehüllt und denke an Dich, fügte er hinzu und unterschrieb so, wie sein Vater ihn genannt hätte. Xiao Shan.

Aus dem zweiten Blatt faltete er einen Umschlag für seinen Brief, zog ein glimmendes Stück Holz aus dem Feuer und trat hinaus in die Dunkelheit. Im Mondschein ging er bis zu einem kleinen Vorsprung, der sich über dem Tal erhob, schichtete zwischen zwei Steinen etwas getrocknetes Gras auf und legte den Brief darauf. Er schaute zu den Sternen empor, verneigte sich vor dem Brief und entzündete das Gras mit der Glut aus dem Lagerfeuer. Als die Asche zum Himmel aufstieg, blickte er ihr ehrfurchtsvoll nach und hoffte, er würde sehen, wie sie vor dem Mond vorbeizog.

Er verweilte eine Zeitlang an diesem Ort, rundherum von Sternen eingehüllt. Ingwergeruch stieg ihm in die Nase, und er lauschte in der Erinnerung seinem Vater. Inzwischen wußte er, daß die freudigen Erlebnisse in seinem Gedächtnis bewahrt geblieben waren.