Выбрать главу

Auf halbem Weg zurück zum Lager erschrak er sich auf einmal fürchterlich, als eine schwarze Gestalt vor ihm auf dem Pfad erschien. Es war Pok. Der riesige Hund saß da und versperrte ihm den Weg.

»Man sagt, es wäre ein Reitunfall gewesen, aber das stimmt nicht«, erklang eine Stimme aus den Schatten neben dem Pfad. Harkog. Er klang auf merkwürdige Weise entschlossen. »Es war eine Landmine. Ich bin vor der Armee weggelaufen. Plötzlich wurde ich durch die Gegend gewirbelt. Die Explosion habe ich gar nicht gehört. Noch während ich in der Luft war, flog mein Bein an mir vorbei. Doch die Soldaten haben aufgegeben. Diese Schweine haben tatsächlich aufgegeben.« Er humpelte aus dem Schatten und schaute zu den Sternen empor, genau wie Shan es getan hatte.

»Haben die Soldaten sich nicht auf das Minenfeld getraut?«

»Drei von ihnen sind vorsichtig herangeschlichen, um mir den Rest zu geben. Ich habe ihnen erst einen Fluch und dann mein Bein entgegengeschleudert. Sie sind gerannt wie verängstigte Welpen.«

»Das mit Ihrem Bein tut mir leid.«

»Mein Fehler. Ich hätte nicht weglaufen sollen.« Langsam und schweigend gingen sie zurück. Pok trottete voran.

»Wir könnten Sie alle beide mitnehmen, falls Sie möchten«, bot Shan an.

»Nein«, erwiderte der Mann bedächtig und wohlüberlegt. »Nehmen Sie einfach nur seine chinesische Kleidung mit und auch alles andere aus Lhadrung. Er muß wieder eine Schaffellweste tragen. Das alles ist ihm nur deshalb passiert, weil er versucht hat, jemand zu sein, der er nicht ist. Einmal bin ich per Anhalter auf einem Lastwagen mitgefahren. Nach Lhadrung. Gute Schuhe. Aber dieser Jao war ein schlimmes Vorbild.«

»Sie haben Jao gekannt?«

»Ich bin einmal mit Balti in dem schwarzen Wagen mitgefahren. Dieser Jao roch nach Tod.«

»Soll das heißen, Sie wußten, daß Jao sterben würde?«

»Nein. Ich meine, um ihn herum sind Leute gestorben. Er hatte Macht, wie ein Zauberer. Er kannte machtvolle Worte, die zu Papier gebracht werden konnten, um Leute zu töten.«

Sie waren inzwischen nahe genug, um den Schein des Lagerfeuers sehen zu können, als Pok knurrte. An einem der Felsen lehnte ein Schatten und wartete. Harkog erteilte dem Hund einen knappen Befehl, und die beiden waren bereits wieder zum Lager unterwegs, bis auch Shan endlich Sergeant Feng erkannte.

»Ich weiß, was du gemacht hast«, sagte Feng. »Du hast eine Botschaft geschickt.«

Shan biß die Zähne zusammen. »Bloß ein kleiner Spaziergang.«

»Mein Vater hat versucht, es mir beizubringen, als ich noch klein war«, sagte Feng mit sehnsüchtiger Stimme. Shan erkannte, daß er Fengs Absicht mißverstanden hatte. »Ich sollte mit meinem Großvater sprechen. Doch ich habe es vergessen. Hier oben, so weit weg von allem, da denkt man über alles mögliche nach. Vielleicht...« Er rang mit sich. »Vielleicht könntest du mir noch mal zeigen, wie das geht.«

Trinle hatte einmal zu Shan gesagt, die Menschen würden über Tagseelen und Nachtseelen verfügen, und die wichtigste Aufgabe im Leben bestünde darin, die eigene Nachtseele mit der Tagseele bekannt zu machen. Shan erinnerte sich daran, wie Feng auf dem Weg zu Sungpos gompa von seinem Vater erzählt hatte. Der Sergeant war dabei, seine Nachtseele zu entdecken.

Sie gingen zurück zu dem Vorsprung, auf dem Shan seinen Brief abgeschickt hatte. Feng entzündete ein kleines Feuer und holte einen Bleistiftstummel sowie einige der leeren Kontrollblätter der 404ten hervor. »Ich weiß nicht, was ich schreiben soll.« Er klang sehr klein und schwach. »Wir durften uns nicht mehr an unsere Familienangehörigen erinnern, wenn sie als schlechte Elemente galten. Aber manchmal möchte ich mich erinnern. Das ist jetzt mehr als dreißig Jahre her.«

»An wen möchten Sie schreiben?«

»An meinen Großvater, wie mein Vater es sich gewünscht hat.«

»Was wissen Sie noch von ihm?«

»Nicht viel. Er war sehr stark und hat viel gelacht. Er hat mich immer auf dem Rücken getragen, oben auf einer Ladung Holz.«

»Dann schreiben Sie einfach nur darüber.«

Feng dachte lange nach und schrieb dann langsam etwas auf eines der Blätter. »Ich kann mich nicht so gut ausdrücken«, entschuldigte er sich und reichte das Blatt an Shan weiter.

Großvater, du bist stark, stand dort. Trag mich auf deinem Rücken.

»Ich glaube, Ihre Worte sind sehr gut«, sagte Shan und half ihm, aus den anderen Blättern einen Umschlag herzustellen. »Um die Botschaft abzuschicken, sollten Sie allein sein«, sagte er. »Ich werde in einiger Entfernung am Weg auf Sie warten.«

»Ich weiß nicht, wie man das abschickt. Ich dachte, man müßte vielleicht etwas Bestimmtes dabei sagen oder so.«

»Denken Sie an ihn, und tragen Sie ihn im Herzen, wie Sie das bereits tun, und dann wird der Brief ihn auch erreichen.«

Als sie zum Lager zurückkehrten, saßen Harkog, Yeshe und Balti am Feuer. Pemu fütterte Balti mit einem Löffel und redete dabei leise und tröstend auf ihn ein, wie man normalerweise mit einem Kind reden würde. Die Erschöpfung schien von Balti auf Yeshe übergewechselt zu sein, der mit ausgelaugter Miene verwirrt in die Flammen starrte.

»Wir sind in Ihrem Haus gewesen«, sagte Shan. »Die alte Frau, die mit der Ratte verheiratet ist, hat uns das Versteck gezeigt. Es war für einen Aktenkoffer gemacht.«

Balti ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte.

»Was hat sich darin befunden, das so gefährlich sein konnte?«

»Große Dinge. Wie eine Bombe, hat Jao gesagt.« Baltis Stimme war dünn und hoch.

»Haben Sie diese Sachen jemals zu Gesicht bekommen?«

»Natürlich. Es waren Akten, Umschläge, keine wirklichen Dinge. Papiere.«

Shan schloß frustriert die Augen, als ihm klar wurde, warum Jao seinem Fahrer hinsichtlich der Papiere so sehr vertraut hatte. »Sie können nicht lesen, nicht wahr?«

»Straßenschilder. Die Straßenschilder hat man mir beigebracht.«

»In jener Nacht«, sagte Shan. »Wohin wollten Sie fahren?«

»Zum Flughafen Gonggar. Dem Flughafen nach Lhasa. Mr. Jao vertraut mir. Ich bin ein sicherer Fahrer. Fünf Jahre ohne Unfall.«

»Aber Sie sind einen Umweg gefahren, bevor es zum Flughafen ging.«

»Richtig. Eigentlich wollten wir zum Flughafen fahren, aber nach dem Abendessen hat er etwas anderes gesagt. Er war ganz aufgeregt. Zur Brücke an der Südklaue sollten wir fahren, dieser neuen Brücke über den Drachenschlund, die Tans Ingenieure gebaut haben. Ein wichtiges Treffen. Aber es sollte nicht lange dauern. Wir werden den Flug nicht verpassen, hat er gesagt.«

»Mit wem hat er sich getroffen?«

»Balti war nur der Fahrer. Ein sehr guter Fahrer. Das ist alles.«

»Hat er seinen Aktenkoffer mitgenommen?«

Balti dachte kurz nach. »Nein. Der Koffer lag auf der Rückbank. Ich bin auch ausgestiegen, als er ausgestiegen ist. Es war kalt. Hinten habe ich eine Jacke gefunden. Ankläger Jao gibt mir manchmal Kleidung. Wir haben die gleiche Größe.«

»Was ist also passiert, nachdem Jao aus dem Wagen gestiegen war?

»Jemand hat aus dem Schatten seinen Namen gerufen. Er ist weggegangen. Also habe ich mich hingesetzt und geraucht. Auf der Motorhaube habe ich gesessen und geraucht. Fast eine halbe Schachtel. Es wurde ziemlich spät. Ich habe auf die Hupe gedrückt. Dann kam er auf einmal angerannt. Er war sehr wütend. Er würde mich in der Luft zerreißen. Das hatte ich wirklich nicht gewollt. Vielleicht war es wegen der Hupe. Er war sehr ärgerlich.«

Shan erkannte, daß Balti nicht mehr von dem Ankläger sprach.

»Sie haben ihn gesehen?«

»Natürlich habe ich ihn gesehen. Wie eine herandonnernde Herde Yaks habe ich ihn gesehen.«

»Wie nah?«

»Zuerst dachte ich, es wäre Genosse Jao. Nur ein Schatten. Dann kam der Mond hinter einer Wolke hervor. Er war golden. Wunderschön. Im ersten Moment war das alles, was ich denken konnte, wie in Trance. So schön und so groß wie zwei Männer. Dann habe ich bemerkt, daß er wütend war. Er hatte diese große Klinge in der Hand und schnaubte wie ein Stier. Mein Herz blieb stehen. Das hat er gemacht. Er hat mein Herz angehalten. Ich habe meinem Herz gesagt, es soll weiterschlagen, aber es wollte nicht. Dann bin ich runter in die Heide gelaufen. Ich bin gerannt. Ich habe mir in die Hose gemacht und geweint. Am Morgen habe ich die Straße nach Osten wiedergefunden. Lastwagenfahrer haben angehalten und mich ein Stück mitgenommen. Dazwischen bin ich gerannt, immer gerannt.«