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»Nachdem ich wieder gegangen war, ist die Menge vorgerückt, hat eine Litanei angestimmt und begonnen, den Zaun hin- und herzuschaukeln. Die Pfosten haben sich gelockert. Also habe ich ein Überfallkommando geschickt, allerdings ohne Schußwaffen. Doch die Tibeter haben sich umgedreht und die Hände zu einer Art menschlicher Kette aneinandergefesselt. Mit Socken, Schnürsenkeln, was auch immer. Sie haben uns ignoriert, uns einfach den Rücken zugewandt und vor sich hingebetet. Was sollten wir machen? Bald kommen Touristen hierher. Falls irgendein Rundauge auftaucht und uns dabei fotografiert, wie wir diese Kerle verprügeln, darf ich den Rekruten nachts beim Leeren der Latrine helfen.«

»Der alte Mann«, sagte Shan. »Ist er aus dem Norden gekommen?«

»Ja, richtig. Uralt und klapprig, als würde er jeden Moment zu Staub zerfallen.«

Shan war plötzlich ganz aufgeregt. »Wo ist er jetzt?«

»Wir haben ihn vor einer Stunde schließlich reingelassen. Es war die einzige Möglichkeit, die Leute loszuwerden. Wann, zum Teufel, werden Sie... «

Shan wartete nicht ab, bis der Offizier die wütende Frage beendet hatte. Er lief durch das Tor zum Arrestlokal.

Das einzige Licht dort drinnen brannte am Ende des Ganges. Jigme saß an der Zellentür und behielt Sungpo im Auge, genau wie Shan ihn vor drei Tagen verlassen hatte. Neben ihm saß Je Rinpoche.

Der alte Mann achtete nicht auf Shan. Er sah Sungpo an, der in der Mitte der Zelle saß. Sie redeten nicht, aber ihre Blicke schienen auf denselben unsichtbaren Punkt in der Ferne gerichtet zu sein.

Als Shan die Zellentür öffnete, hielt Yeshe ihn am Arm zurück. »Sie dürfen nicht einschreiten. Wir müssen warten, bis sie von selbst zurückkommen.«

»Nein«, widersprach Shan. »Es ist zu spät, um nicht einzuschreiten.« Er betrat die Zelle und berührte Sungpo an der Schulter. Dabei schien eine Art Elektrizität seine Finger zu durchzucken, aber ohne den entsprechenden Schock. Er redete sich ein, es müsse sich um Einbildung gehandelt haben. Sungpo bewegte den Kopf hin und her, als würde er einen tiefen Schlaf abschütteln. Dann blickte er auf und begrüßte Shan mit einem kaum merklichen Blinzeln.

Je Rinpoche atmete tief aus, und sein Kopf sackte ihm langsam auf die Brust. Yeshe starrte Shan mit ungewohntem Zorn an.

»Versteht denn niemand, was hier gerade vor sich geht?« fragte Shan mit mühsam unterdrückter Erregung. Er erhielt keine Antwort.

Nachdenklich erwiderte er Yeshes Blick. »Ich muß mit Dr. Sung sprechen. Gehen Sie, und rufen Sie sie an. Sagen Sie ihr, daß ich mich mit ihr treffen muß.«

»Dieser alte Lama meditiert«, warnte Yeshe. »Sie dürfen ihn nicht unterbrechen.«

»Sagen Sie ihr, daß ich mit ihr über eine Gruppe namens Bei Da-Verband reden will.«

Yeshe brachte stirnrunzelnd seine Mißbilligung zur Kenntnis, machte dann kehrt und verließ das Gebäude.

Shan kniete sich zwischen die beiden Mönche. »Verstehen Sie, was hier vor sich geht?« fragte er erneut, diesmal etwas lauter, weil ihm keine Möglichkeit einfiel, die Aufmerksamkeit des Lama auf weniger grobe Weise zu erregen.

»Ein Mann wurde ermordet«, sagte Je Rinpoche plötzlich und hob den Kopf. »Die Regierung hat ihn für eine wichtige Persönlichkeit gehalten.«

Shan sah zu Sungpo. Die Augen des Mannes blinzelten.

»Man wird einen Ausgleich herbeiführen wollen«, stellte der alte Lama sachlich fest.

»Einen Ausgleich?«

»Man wird dafür eines unserer Leben verlangen.«

»Ist es das, was Sie wollen?«

»Wollen?« fragte Je.

»Was ist mit der Gerechtigkeit?«

»Gerechtigkeit?«

Shan hatte das chinesische Wort yi gewählt, dessen Ideogramm einen großen Menschen darstellte, der mit vorgehaltenem Schwert einen kleineren Menschen beschützte. Das Symbol wurde von den Tibetern so gut wie nie benutzt.

»Glauben wir an Pekings Gerechtigkeit?« fragte Je in dem gleichen gelassenen Tonfall, in dem er in Saskya von der Zerstörung des alten Klosters erzählt hatte. Die Frage war an Sungpo gerichtet.

Auf einmal ergriff Sungpo das Wort. Er sah dabei Je an, und zwar ausschließlich Je. »Wir glauben an die Harmonie«, erwiderte er mit kaum hörbarer Stimme. »Wir glauben an den Frieden.«

Je wandte sich an Shan. »Wir glauben an die Harmonie«, wiederholte er. »Wir glauben an den Frieden.«

»Ich wurde zur Umerziehung in eine Kommune geschickt«, sagte Shan zu Je. »Während der dunklen Jahre.« Jedermann hatte seinen eigenen Namen für die qualvolle Periode, die von Mao als Kulturrevolution bezeichnet worden war. »In der ersten Woche standen wir in einem Reisfeld. Im Schlamm. In mehreren Reihen. Sie nannten uns Sämlinge. Sprechen war nicht gestattet. Die Politoffizierin sagte, auf den Feldern müsse Frieden herrschen. Falls jemand redete, lachte oder weinte, wurde er geschlagen. Wir haben lange Zeit keinen Laut von uns gegeben. Aber wie Frieden hat sich das nie angefühlt.«

Je lächelte nur.

Sungpo schien wieder zurück in seine Meditation zu gleiten.

»Ich habe Fragen«, sagte Shan eindringlich zu Je. »Fragen Sie ihn nach der Verhaftung. Was haben die Männer gesagt? Wann hat er Ankläger Jao zum letztenmal gesehen?«

Je beugte sich vor und sprach flüsternd mit Sungpo.

»Er war weg«, erklärte Je und bezog sich damit auf Sungpos Meditation. »Weit weg. Er wußte nichts, bis er zurückkehrte. Da stellte er fest, daß er in einem Wagen saß und man ihm Handschellen angelegt hatte. Es gab insgesamt zwei Autos, voll mit Männern in Uniform.«

»Weshalb hat man Ankläger Jaos Brieftasche dort gefunden?«

Je hielt Rücksprache mit Sungpo. »Das ist sehr merkwürdig«, erklärte er mit verwundertem Blick. »Sungpo hatte die Brieftasche nicht in seinem Besitz. Er wußte nicht, daß man sie dort gefunden hatte. Vielleicht ist etwas dorthin gekommen und hat die Brieftasche versteckt.«

»Etwas? Oder doch eher jemand?«

Als der alte Mann seufzte, stieg aus seiner Kehle ein rasselndes, pfeifendes Geräusch empor. »Manchmal schlägt der Blitz ein und hinterläßt Dinge. Die Brieftasche sollte sich dort befinden. Es scheint nicht wichtig, wie sie dorthin gelangt ist.«

»Ein Blitz hat bewirkt, daß eine Brieftasche sich in Sungpos Höhle materialisiert hat?« fragte Shan langsam. Sein Mut sank.

»Blitze. Geister. Ihre Taten sind unergründlich. Vielleicht ist das ihre Art, ihn zu rufen.«

»Und falls man den wirklichen Täter nicht findet und der Geist des Ermordeten nicht zur Ruhe kommt, wird die 404te ihren Streik fortsetzen. Man wird die Häftlinge des Massenverrats für schuldig befinden.«

»Vielleicht ist auch das der vorherbestimmte Pfad der Männer zur nächsten Inkarnation.«

Shan schloß die Augen und atmete tief durch. »Hat Sungpo den Ankläger Jao gekannt?«

Je sprach kurz mit Sungpo. »Er kennt den Namen aus irgendeinem Gerichtsprozeß.«

»Hat er Jao ermordet?«

Je sah ihn müde an. »Er trägt keine Last auf seiner Seele. Nur noch die Breite eines Haares trennt ihn von den Toren der Buddhaschaft.«

»Das ist keine zulässige Verteidigung.«

Je seufzte. »Ein Mord wäre eine Verletzung seiner Gelübde. Er ist ein wahrhaft Gläubiger. Er hätte mir sofort davon erzählt. Er hätte sein Gewand abgelegt. Sein Zyklus wäre unterbrochen worden.«

»Aber trotzdem sagt er nicht, daß er es nicht getan hat.«

»Das wäre eine eigennützige Handlung. Uns wurde beigebracht, solche Handlungen zu meiden.«

»Demnach beteuert er deshalb nicht seine Unschuld, weil er nicht schuldig ist.«

»Genau.« Je lächelte. Shans Logik schien ihm sehr zu gefallen.

»Der Leiter des Büros für Religiöse Angelegenheiten hat kürzlich das Kloster besucht. Hat Sungpo den Mann gesehen?«