»Sungpo ist ein Einsiedler. Sobald er in Meditation versunken ist, würde er einen solchen Besucher nicht einmal dann bemerken, wenn dieser neben ihm stehen und ihm einen Tritt versetzen würde.«
Shan wandte sich an Jigme. »Gibt es noch einen anderen Weg zu Ihrer Hütte als den, auf dem wir gekommen sind?«
»Es gibt ein paar alte Wildpfade. Oder man klettert die Felsen hoch.«
Sungpo war inzwischen fast gänzlich entschwunden. Er schien keinen der Anwesenden mehr hören zu können, nicht einmal den alten Je. »Das Wissen, daß er für das Verbrechen eines anderen sterben wird, ist das nicht auch eine Art der Lüge?« fragte Shan den alten Lama und mußte gegen die Verzweiflung in seiner Stimme ankämpfen.
»Nein. Ein falsches Schuldbekenntnis, das wäre eine Lüge.«
»Bislang haben wir die Öffentliche Sicherheit aus der Sache heraushalten können. Aber sie werden versuchen, noch vor dem Prozeß ein Geständnis zu bekommen, und diese Leute versagen nur selten.« Er hatte in Peking einst eine entsprechende Direktive zu Gesicht bekommen. »Die Eröffnung eines Verfahrens, ohne daß ein Geständnis vorliegt, gilt als schlechte Arbeit der Justizorgane und als Mißachtung der sozialistischen Ordnung. Falls Sungpo nicht selbst daran mitwirkt, wird man in seinem Namen ein Geständnis verlesen.«
»Aber das wäre widersinnig«, stellte Je mit nach wie vor gelassener Stimme fest.
Shan beneidete ihn um seine Naivität. »Der Prozeß wird zur Unterweisung des Volkes durchgeführt.«
»Ah. Du meinst wie bei einer Parabel.«
»Ja«, erwiderte Shan mit hohler Stimme. Ein Bild blitzte vor seinem inneren Auge auf. Die alte Frau mit Mop und Eimer, wie sie hinter Sungpo die Treppe heraufkam. »Außer, daß eine solche Verhandlung eindeutigere Wirkung zeitigt als eine Parabel.«
Yeshe saß auf den Stufen vor ihrer Unterkunft, als Shan ein paar Decken für Je holen wollte. Der alte Lama bestand darauf, im Zellenblock zu bleiben. »Ich werde darum bitten, wieder an meine Arbeit bei der 404ten zurückkehren zu dürfen. Falls ich noch ein weiteres Jahr bei Zhong bleiben muß, dann werde ich das eben ertragen«, verkündete Yeshe und folgte Shan durch die Tür. »Ich möchte an dieser Sache nicht länger beteiligt sein. Das alles ist zu verwirrend. Was ist, wenn Jigme mit seiner Behauptung recht hat, Sungpo könne mit Leichtigkeit ein Gesicht abwerfen?«
»Soll das heißen, wir sollten akzeptieren, daß er sich opfert?«
»Es geht ja nicht nur um Sungpo. Sie haben es doch selbst gesagt. Es wird nicht ausreichen, Sungpos Unschuld zu beweisen. Wir werden eine Alternative anbieten müssen.
Womöglich verhaftet man dann vier oder fünf andere Mönche. Vielleicht sogar zehn oder zwanzig und nennt es eine Verschwörung der purbas. Alle würden im gleichen Maße für schuldig befunden. Und vielleicht würde man sich nicht mit den purbas begnügen. Es gibt so viele Leute, die Widerstand leisten.«
»Ihrer Meinung nach muß also entweder Sungpo oder der Widerstand geopfert werden.«
»Der Widerstand im Bezirk Lhadrung, ja.«
»Und Sie sprechen sich jetzt für den Widerstand aus?«
»Sie haben mein gompa gesehen. Ich könnte keinpurba sein, ohne meine Gelübde zu brechen. Ich würde für alle Zeit ausgestoßen werden. Es gäbe keine Hoffnung auf Rückkehr.«
»Hegen Sie denn diese Hoffnung?« fragte Shan.
»Nein«, erwiderte Yeshe mit bewegter Stimme. »Ich weiß es nicht. Vor zwei Wochen hätte ich es noch verneint. Jetzt weiß ich lediglich, wie schmerzhaft eine Rückkehr sein könnte.«
Shan erinnerte sich an die Hunde in Yeshes Kloster. Die Seelen von gescheiterten Priestern, hieß es.
Draußen ertönte lautes Geschrei, gefolgt vom hämmernden Geräusch einiger Stiefel, die über den Exerzierplatz liefen. Die Kriecher zerrten Jigme vom Gefängnis weg, wogegen er sich nach Kräften sträubte. Shan drehte sich zu Yeshe um. »Ich brauche Ihre Hilfe. Mehr als jemals zuvor.«
Als Shan die Gruppe erreichte, hatte man Jigme in etwa hundert Metern Entfernung von Sungpos Zelle abgesetzt.
»Nur ein Besucher darf bei dem Gefangenen bleiben«, brüllte einer der Kriecher und ging weg.
»Von hier aus können Sie nicht allzuviel für ihn tun«, stellte Shan fest und setzte sich neben Jigme.
»Falls er essen würde, könnte ich ihm die Mahlzeiten zubereiten.« »Es gibt vielleicht noch andere Möglichkeiten«, sagte Shan. »Je nachdem, wem Sie helfen wollen.«
»Sungpo.«
»Sungpo dem Heiligen? Oder Sungpo dem Sterblichen?«
Jigme dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Manchmal ist das gar nicht so einfach zu sagen. Ich würde meinen, es ist ein und dasselbe.«
»Sie und ich, wir haben beide chinesisches Blut in den Adern. Es heißt, wir seien alle damit gestraft, ständig Kompromisse schließen zu müssen. Vielleicht würde es Jahre dauern, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Aber in ein paar Tagen spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«
Sie saßen schweigend da. Jigme fing an, mit dem Finger beiläufig ein Muster in den Staub zu malen.
»Ich möchte, daß Sie folgendes tun«, sagte Shan. »Gehen Sie in die Berge, zu den Drachenklauen. Wir können Ihnen Wasser und Vorräte mitgeben, und im Wagen sind auch ein paar Decken. Sergeant Feng kann Sie hinfahren und wird dann jeden Tag bei Ihnen vorbeischauen. Aber sobald Sie einmal draußen sind, weiß ich nicht, ob die Wachen Sie wieder durch das Tor lassen werden.«
Jigme dachte lange nach. »Es heißt, da oben sei ein Dämon unterwegs.«
Shan nickte mitfühlend. »Ich möchte, daß Sie herausfinden, wo dieser Dämon wohnt.«
Jigme zuckte nicht zusammen, aber sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Er wird Ihnen nichts tun.«
»Aus welchem Grund sollte er mich verschonen?« fragte Jigme jammervoll.
»Weil Sie zu den wenigen gehören, die reinen Herzens sind.«
Dr. Sung blieb nicht stehen, als Shan eintraf. »Verschwinden Sie«, sagte sie. »Sie verbreiten Gefahr, wo immer Sie auftauchen.« Er folgte ihr, während sie den Korridor der Klinik entlangeilte.
»Was ist der Bei Da-Verband?« fragte er und mußte beinahe laufen, um mit ihr Schritt halten zu können.
»Bei Da ist die Universität. Ein Verband ist ein Verband«, erwiderte sie lakonisch.
»Gehören Sie auch diesem Verband an?«
»Ich bin eine Ärztin im Dienst der Volksregierung. Die einzige Ärztin hier, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte. Ich habe viel Arbeit zu erledigen.«
»Wer war es, Doktor?«
Sie blieb stehen und sah ihn verwundert an.
»Wer hat Sie eingeschüchtert?«
Sie wurde rot. Zuerst dachte Shan, es geschähe aus Wut, aber dann kam er zu dem Schluß, daß es genausogut Scham sein konnte. »Es heißt, es handle sich um einen Klub für Absolventen der Pekinger Universität«, sagte sie. »Natürlich gibt es in ganz Lhadrung nur eine Handvoll dieser Absolventen. Man hat mich bei einer Gelegenheit zu einem Treffen eingeladen, zu einem Abendessen in einem alten Kloster außerhalb der Stadt. Ich dachte, man würde mich vielleicht fragen, ob ich dem Klub beitreten wollte.«
»Aber man hat Sie nicht gefragt.«
»Abgesehen von Peking, habe ich mit diesen Leuten nur wenig gemeinsam.«
»Um wen handelt es sich?« Ein Pfleger wischte den Boden, ein Tibeter. Er schob den Putzeimer in ihre Richtung. Shan forderte die Ärztin durch einen Wink auf, ihm außer Hörweite zu folgen.
»Die aufstrebenden Karrieremacher. Die junge Elite. Sie wissen schon. Heimlich importierte Bluejeans. Sonnenbrillen, die mehr kosten als das Monatseinkommen einer normalen Familie.«
»Mögen Sie Bluejeans und Sonnenbrillen nicht?«
Die Frage schien Dr. Sung zu überraschen. Sie schaute den Korridor hinunter, bevor sie antwortete. »Ich weiß nicht. Aber ich kann mich noch erinnern, daß solche Statussymbole früher durchaus eine Rolle für mich gespielt haben.«