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»Was ist mit Ankläger Jao? Hat er dazugehört?« fragte Shan.

»Nein, Jao war zwar Absolvent, aber zu alt, schätze ich. Li ist Mitglied. Wen vom Büro für Religiöse Angelegenheiten. Der Direktor der Minen. Ein paar Soldaten.«

»Soldaten? Ein Major der Öffentlichen Sicherheit?«

Die Erwähnung des Büros schien Sung zu beunruhigen. Sie dachte kurz nach. »Keine Ahnung. Da war einer. Er war aalglatt und arrogant. Auf einer Wange hatte er die Narbe einer Schußverletzung.«

»War einer von denen je bei Ihnen in Behandlung?«

»Die sind gesund wie Yaks, einer wie der andere.«

»Nicht mal wegen eines Hundebisses?«

»Eines Hundebisses?«

»Schon gut.« Shan hatte nicht vergessen, daß sich unter den geheimen Zaubern, die von der ragyapa gekauft worden waren, auch Bannsprüche gegen Hundebisse befunden hatten. Er konnte es nicht logisch begründen, aber auf irgendeine Weise ließ diese Tatsache ihn nicht mehr los. Jemand wollte einerseits Vergebung von Tamdin erlangen und sich andererseits vor Hundebissen schützen.

»Hat Jao Ihnen gegenüber je erwähnt, er würde von hier weggehen? Oder versetzt werden?«

»Er hat ein paar Andeutungen darüber gemacht, wie schön es doch wäre, wieder zurück im eigentlichen China zu sein.« »Sind das seine Worte oder Ihre?«

Sie wurde wieder rot. »Er hat von Rückkehr gesprochen. Er sagte, wenn er nach Hause käme, würde er sich einen Farbfernseher kaufen. In Peking kann man inzwischen angeblich die Sender aus Hongkong empfangen. Ich schätze, letzten Endes hat er es geschafft«, fügte sie hinzu.

»Was hat er geschafft?«

»Nach Peking zurückzukehren. Miss Lihua hat ein Fax aus Hongkong geschickt und darum gebeten, daß seine Leiche und Vermögenswerte zurückgesandt werden.«

Shan starrte sie ungläubig an. »Unmöglich. Nicht, solange die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.«

Sung funkelte ihn mit einem triumphierenden Lächeln an. »Heute morgen ist ein Lastwagen der Öffentlichen Sicherheit hergekommen und hat ihn abgeholt. Die Männer hatten einen Sarg dabei. Von Gonggar aus ist die Leiche dann an Bord eines Militärflugzeugs ausgeflogen worden.«

»Die Behinderung gerichtlicher Ermittlungen ist ein schwerwiegendes Vergehen.«

»Nicht, wenn die Öffentliche Sicherheit es wünscht. Ich habe um eine schriftliche Bestätigung gebeten.«

»Ist Ihnen das nicht merkwürdig vorgekommen? Haben Sie denn nicht daran gedacht, daß diese Untersuchung auf direkte Anweisung von Oberst Tan erfolgt?«

Sung blickte erschrocken auf. »Ankläger Li hat mir den Befehl ausgehändigt«, erklärte sie beunruhigt.

»Ankläger? Es gibt keinen neuen Ankläger. Noch nicht.«

»Was sollte ich denn machen? Das Büro des Parteivorsitzenden um Bestätigung bitten?«

»Wer hat die Anweisung unterschrieben?«

»Ein Major der Öffentlichen Sicherheit.«

Shan rang verzweifelt die Hände. »Hat dieser Major denn keinen Namen? Fragt ihn denn niemals jemand danach?«

»Genosse, im Umgang mit der Öffentlichen Sicherheit sollte man eines ganz bestimmt nicht tun: den Leuten Fragen stellen.«

Shan machte einen Schritt auf die Tür zu und drehte sich dann um. »Ich muß telefonieren«, sagte er. »Ein Ferngespräch.«

Sie stellte keine Fragen, sondern führte ihn in ein leeres Büro im hinteren Teil des Gebäudes. Als sie ging, erschien eine Gestalt an der Tür. Yeshes Verzweiflung war ihm noch immer anzumerken, aber seine Augen funkelten entschlossen.

»Als man mich von der Universität zurückgeschickt hat«, sagte er, während er den Raum betrat, »da wußte ich, wer das Foto des Dalai Lama aufgehängt hatte. Es war nicht einmal ein Tibeter, sondern ein chinesischer Freund von mir. Es war als Scherz gemeint. Ein Streich.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Man hat mich ins Arbeitslager gesteckt, weil man dachte, ich wäre dazu fähig gewesen. Aber das war ich nicht. Ich hätte nie genug Mut dazu aufgebracht.«

Shan legte Yeshe die Hand auf die Schulter. »Es ist ein Fehler, Mut für etwas zu halten, das man anderen gegenüber beweisen muß. Wahrer Mut ist einzig und allein etwas, das man sich selbst eingesteht.«

»Man muß wissen, wer man ist, bevor man überhaupt die Möglichkeit hat, diese Art von Mut zu erkennen«, sagte Yeshe und blickte zu Boden.

»Ich glaube, Sie wissen es.«

»Nein, weiß ich nicht.«

»Ich glaube, der Mann, der dem Major die Stirn geboten und Baltis Leben gerettet hat, wußte, wer er war.«

»Jetzt, da wir wieder hier sind, fühlt es sich an, als hätte ich nur eine Rolle gespielt. Ich weiß nicht, ob das wirklich ich gewesen bin.«

»Für wen haben Sie diese Rolle gespielt?«

»Keine Ahnung.« Yeshe hob den Kopf und sah Shan in die Augen. »Vielleicht für Sie«, sagte er leise.

Shan wandte den Blick ab. Seltsamerweise mußte er bei diesen Worten an seinen Sohn denken, den Sohn, der so weit von ihm entfernt war, daß er nicht einmal ein Bild vor Shans innerem Auge darstellte, sondern lediglich ein Konzept. Den Sohn, der vermutlich davon ausging, daß Shan tot war. Den Sohn, der ihn stets als einen Versager verachten würde, gleich ob tot oder lebendig.

»Nein«, sagte er und wandte sich wieder Yeshe zu. Nicht ich, wollte er sagen. Ich bin nicht stark genug, um noch eine Last zu tragen. »Sie haben das getan, weil Sie die Wahrheit herausfinden wollen. Sie haben das getan, weil Sie wieder ein Tibeter sein möchten.«

Yeshe blinzelte nicht. Er ließ nicht erkennen, ob er Shan überhaupt gehört hatte.

Shan schrieb die Nummern aus Jaos geheimer Akte ab. »Falls das Telefonnummern sind, muß ich wissen, zu welchen Anschlüssen sie gehören«, sagte er.

Yeshe seufzte und musterte das Blatt. »Das könnten wir auch bei der 404ten erledigen. Oder im Lager Jadefrühling.«

»Nein, könnten wir nicht«, erwiderte Shan schroff. Die Öffentliche Sicherheit würde die Leitungen aus dem vergessenen Büro irgendeiner vergessenen Klinik vermutlich nicht abhören. »Soweit die Vermittlung weiß, sind Sie bloß ein Büroangestellter des Krankenhauses, der versucht, die Identität eines unbekannten Toten herauszufinden. Versuchen Sie es mit Lhasa. Dann mit Shigatse, Peking, Shanghai, Guangzhou oder New York. Aber finden Sie es heraus.« Er zog die amerikanische Geschäftskarte aus der Tasche, die man bei Jaos Leiche gefunden hatte. »Und dann kümmern Sie sich hierum.«

Als Yeshe den Hörer abnahm, ging Shan aus dem Zimmer und trat an ein Fenster im Gang. Draußen konnte er Sergeant Feng sehen, der im Wagen saß und schlief. Er drehte sich um. Der tibetische Pfleger war wieder in seiner Nähe, stand an einer offenen Tür und musterte Shan, während er den Boden wischte. Am anderen Ende des Gangs erschien ein weiterer Pfleger und schob einen Rollstuhl vor sich her. Der erste Mann hielt inne, und als Shan zu ihm herübersah, wies er angestrengt auf die offene Tür. Shan ging zögernd in seine Richtung. Hinter sich hörte er ein metallisches Rasseln. Der zweite Pfleger näherte sich schnellen Schritts.

»Sehen Sie nur, da drinnen«, sagte der erste Pfleger.

Es war ein unbeleuchteter Wandschrank. Im Halbdunkel sah Shan einen Besen und Putzmittel. Plötzlich legte sich von hinten ein Arm um seine Brust, und jemand drückte ihm einen Stoffetzen aufs Gesicht, der nach einer starken Chemikalie stank. Etwas Hartes traf ihn in die Kniekehlen. Der Rollstuhl. Das letzte, woran er sich erinnerte, war das Klingeln kleiner Glocken.

Er erwachte auf dem Boden einer Höhle und hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Chloroform. Die Höhle war vollgestopft mit kleinen Buddhastatuen aus Gold und Bronze, und in den Regalen stapelten sich Hunderte von Manuskripten. Im trüben Licht der Butterlampen sah er zwei Gestalten mit kahlgeschorenen Köpfen. Eine von ihnen bückte sich und begann damit, Shans Gesicht mit einem feuchten Tuch abzuwischen. Es war einer der Pfleger. An seinem Handgelenk hing ein Rosenkranz, an den winzige Glöckchen gebunden waren. Ein Streichholz flammte auf, und dann wurde es heller in der Höhle. Der erste Mann stand auf, und der andere wich zur Seite und gab den Blick auf eine Kerosinlampe frei.