Es war ein leises Grollen zu hören, wie ferner Donner. Im heller werdenden Licht erkannte Shan eine Tür mit einem Holzrahmen. Das hier war keine Höhle, sondern ein Raum, den man direkt aus dem Felsen herausgemeißelt hatte, und der Donner war das Geräusch des Straßenverkehrs über ihren Köpfen.
»Warum machst du dir so viele Gedanken über das Tamdin- Kostüm?« fragte auf einmal der Mann mit der Lampe. Es war der illegale Mönch vom Marktplatz, der purba mit dem Narbengesicht. »Du hast Direktor Wen vom Büro für Religiöse Angelegenheiten nach den Kostümen in den Museen gefragt.«
»Weil der Mörder wie Tamdin aussehen wollte«, sagte Shan und rieb sich die schmerzende Schläfe. »Vielleicht war er der Meinung, er würde Tamdins Willen vollstrecken.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Und du glaubst, jemand hat so ein Kostüm?«
»Das weiß ich sogar mit Sicherheit.«
»Oder hat eventuell jemand nur ein paar Artefakte plaziert, um dich zu dieser Überzeugung zu bewegen?«
Shan dachte darüber nach. »Nein, er wurde gesehen. Jemand in so einem Kostüm wurde von Ankläger Jaos Fahrer gesehen. Der Mann hat nicht gelogen. Diese Beobachtung wurde übrigens nicht nur beim Mord an Jao gemacht, sondern auch bei einigen der anderen Morde, vielleicht sogar bei allen.«
Der purba hielt Shan die Lampe neben das Gesicht. »Willst du damit sagen, es hat die ganze Zeit nur einen einzigen Mörder gegeben?«
»Ich glaube, es sind zwei, aber sie haben zusammengearbeitet.«
»Aber wenn man nachweist, daß einer von denen ein religiöses Kostüm getragen hat, wird das doch nur zu der Ansicht führen, die Täter wären Buddhisten gewesen.«
»Es sei denn, wir beweisen das Gegenteil.«
Der purba gab ein ungläubiges Grunzen von sich. »Die Kriecher könnten jede Minute das Feuer auf die 404te eröffnen, und du verschwendest deine Zeit mit Dämonen.« »Wenn du eine bessere Idee hast, wie man sie retten könnte, dann sag es mir bitte.«
»Wenn das so weitergeht, wird Lhadrung verloren sein. Man wird den Bezirk in eine militarisierte Zone verwandeln.«
Shans Mund wurde trocken. »Was werdet ihr tun?«
»Vielleicht werden wir ihnen den fünften geben«, erwiderte der purba.
»Den fünften?«
»Den letzten der Fünf von Lhadrung. Damit sie ihn wieder einsperren können. Vielleicht kommen sie dann zu der Einsicht, daß die Verschwörung beendet ist. Es wird niemand mehr da sein, dem man die Schuld geben könnte.«
Das war eine ehr tibetische Lösung. Shan entdeckte etwas Neues im Blick des purba. Traurigkeit. »Der letzte der Fünf bittet einfach so darum, ins Gefängnis zu gehen«, sagte Shan.
»Ich habe darüber nachgedacht. Er könnte zum Berg gehen und die Bardo-Riten abhalten, um den jungpo zu vertreiben. Die 404te könnte den Streik beenden und wieder mit der Arbeit beginnen.«
»Die Öffentliche Sicherheit wäre außer sich«, stimmte Shan ihm zu. »Wer auch immer die Riten abhält, man würde ihn zum Dienst in der 404ten verurteilen.«
»Genau.« Der purba zuckte die Achseln. »Es gibt auch noch andere Lösungen. Die Leute sind wütend.«
Die Worte jagten Shan Angst ein. »Choje von der 404ten hat einmal gesagt, daß diejenigen, die zu sehr versuchen, etwas rundum Gutes zu tun, sich um so mehr in Gefahr befinden, etwas rundum Schlechtes zu bewirken.«
»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.«
»Es bedeutet, daß im Namen der Rechtschaffenheit viel Böses getan werden kann, denn für viele ist Rechtschaffenheit ein relativer Begriff.«
Der purba sah in die Flamme der Lampe. »Ich glaube nicht, daß Rechtschaffenheit ein relativer Begriff ist.«
»Nein, ich nehme auch nicht an, daß du dieser Meinung bist.«
Der Mann seufzte. »Ich habe nicht gesagt, wir würden Gewalt anwenden. Ich habe nur gesagt, die Leute seien wütend.« Er nahm einen der kleinen Bronzebuddhas und legte beide Hände darum. »In der Nacht, als der Ankläger starb, ist ein Bote in das Restaurant gekommen, in dem er gegessen hat«, erklärte er. »Ein junger Mann. Gutgekleidet. Ein Chinese. Er hat einen Hut getragen. Und er hatte einen Zettel für Jao. Einer der Kellner hat dem Ankläger Bescheid gegeben, worauf dieser sofort aufgestanden ist und mit dem Mann gesprochen hat. Der Mann hat Jao etwas gegeben. Eine Blume. Eine alte rote Blume, die ganz vertrocknet war. Jao wurde ganz aufgeregt. Er nahm den Zettel und die Blume und gab dem Mann Geld. Daraufhin ist der Mann gegangen. Der Ankläger hat mit seinem Fahrer gesprochen und ist dann wieder zu der Amerikanerin an den Tisch zurückgekehrt.«
»Woher weißt du das alles?«
»Du hast gesagt, du müßtest wissen, was Ankläger Jao an jenem Abend gemacht hat. Einige Hilfskellner in dem Restaurant haben sich daran erinnert.«
Shan dachte an das tibetische Personal des Restaurants zurück, das sich aus lauter Angst vor ihm niedergekauert hatte. »Ich muß herausbekommen, wer diese Botschaft geschickt hat.«
»Das wissen wir nicht. Aber da war etwas mit den Augen des Überbringers. Eines davon war irgendwie komisch. Einer der Kellner hat den Mann wieder erkannt; er war Zeuge im Mordprozeß gegen den Mönch Dilgo.«
»Dilgo, der zu den Fünf von Lhadrung gehört hat?«
Der narbengesichtige Mann nickte.
»Würde er ihn noch einmal erkennen?«
»Sicher. Aber wir könnten dir auch einfach seinen Namen verraten.«
Shans Kopf zuckte hoch. »Ihr kennt seinen Namen?«
»Ich wußte es in dem Moment, als ich die Beschreibung hörte. Ich war auch bei dem Prozeß. Es war ein Mann namens Meng Lau. Ein Soldat.«
»Derselbe Mann, der jetzt behauptet, er hätte Sungpo gesehen.« Shan erhob sich aufgeregt, als wolle er gehen. Der purba wich zur Seite und gab den Blick auf eine weitere Gestalt frei, die im Schatten gestanden hatte und nun vortrat, um Shan den Weg zu versperren. »Noch nicht, bitte«, sagte die Gestalt. Es war eine Frau. Eine Nonne.
»Sie verstehen nicht. Falls ich nicht innerhalb kürzester Zeit... «
Die Nonne lächelte nur, nahm ihn bei der Hand und führte ihn einen kurzen Gang entlang in eine zweite Kammer. Es mußte sich einst um ein gompa gehandelt haben, erkannte Shan, um den unterirdischen Schrein eines alten, vergessenen gompa. Es ergab Sinn. Früher war jede tibetische Stadt rund um ein zentrales gompa errichtet worden. Der zweite Raum war hell erleuchtet. Vier Lampen hingen von den Deckenbalken herab.
Ein kleiner Mann saß über einen roh behauenen Tisch gebeugt und schrieb in ein großes Buch. Er schaute auf, nahm seine zerbrechliche Brille ab und blinzelte einige Male. »Mein Freund!« rief er entzückt und sprang von seinem Hocker auf, um Shan in die Arme zu schließen.
»Lokesh? Bist du das?« Shans Herz vollführte einen Freudensprung, während er den Mann auf Armeslänge von sich hielt und genau musterte.
»Mein Geist hat sich emporgeschwungen, als man mir erzählte, du würdest vielleicht kommen«, sagte der alte Mann und lächelte glücklich.
Shan hatte Lokesh nur in Gefängniskleidung gekannt. Er starrte ihn an und wurde völlig von seinen Gefühlen überwältigt. Es war, als würde er plötzlich einen verloren geglaubten Onkel wiederfinden. »Du hast ein wenig zugenommen.«
Der alte Mann lachte und umarmte Shan ein weiteres Mal. »Tsampa«, sagte er. »Soviel tsampa, wie ich will.« Shan entdeckte einen vertrauten Blechnapf auf dem Tisch, der zur Hälfte mit gerösteter Gerste gefüllt war. Es war eine der Schalen, wie sie bei der 404ten benutzt wurden. Alte Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht ablegen.