Выбрать главу

»Aber deine Frau. Ich dachte, du wärst mit ihr nach Shigatse gegangen.«

Der alte Mann lächelte. »Das bin ich auch. Aber stell dir vor, zwei Tage, nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war, hat meiner Frau die letzte Stunde geschlagen.«

Shan starrte ihn ungläubig an. »Ich bin...« Ja, was bin ich eigentlich? dachte er. Untröstlich? Wütend? Wie gelähmt, weil niemand mehr etwas daran ändern kann? »Es tut mir leid«, sagte er.

Lokesh zuckte die Achseln. »Ein Priester hat zu mir gesagt, wenn eine Seele reif und bereit ist, fällt sie einfach wie ein Apfel vom Baum. Es war mir vergönnt, am letzten Tag meiner Frau bei ihr zu sein. Und das verdanke ich dir.« Er legte noch einmal die Arme um Shan, trat dann einen Schritt zurück und nahm ein kleines verziertes Medaillon ab, das um seinen Hals hing. Es war ein altes gau, das Behältnis für Lokeshs Schutzzauber. Er streifte es Shan über.

»Das kann ich nicht annehmen.«

Lokesh hob einen Finger an die Lippen. »Natürlich kannst du das.« Er schaute zu der Nonne. »Wir haben keine Zeit für Diskussionen.«

Die Nonne blickte zurück ins Halbdunkel, wo sich der narbengesichtige purba befunden hatte. Als sie sich zu Shan umwandte, schimmerten ihre Augen feucht. »Sie müssen uns helfen. Sie müssen ihn aufhalten.«

Shan war verwirrt. »Er hat gesagt, er würde keine Gewalt anwenden.«

Die Nonne biß sich auf die Lippe. »Nur gegen sich selbst.«

»Sich selbst?«

»Er will zum Berg gehen, die verbotenen Riten abhalten und sich dann den Kriechern ausliefern.« Ihre Hand umklammerte seinen Arm, während Shan zurück in den Schatten des unterirdischen Labyrinths starrte und endlich verstand. Der narbengesichtige purba, war der fünfte und letzte der Fünf von Lhadrung und gleichzeitig der nächste, den man eines Mordes beschuldigen würde, sofern die Verschwörung weiterhin andauerte.

Sanft löste Lokesh den Griff der Nonne und zog Shan zum Tisch. »Die 404te steckt erneut in Schwierigkeiten. Wir brauchen noch einmal deine Weisheit, Xiao Shan.«

Shan folgte Lokeshs Blick zu dem Buch, das auf dem Tisch lag. Es hatte die Ausmaße eines großen Wörterbuchs und war in Holz und Leinen gebunden. Die Eintragungen in dem Manuskript stammten von verschiedener Hand und waren sogar teilweise in verschiedenen Sprachen abgefaßt. Zumeist handelte es sich um Tibetisch, vereinzelt aber auch um Mandarin, Englisch und Französisch.

Die Nonne blickte mit großen, traurigen Augen auf. »Es gibt hiervon elf Exemplare in Tibet«, sagte sie leise. »Einige weitere in Nepal und Indien und sogar eines in Peking.« Sie trat zur Seite und bedeutete Shan, am Tisch Platz zu nehmen. »Man nennt es das Lotusbuch.«

»Hier, mein Freund«, sagte Lokesh aufgeregt und schlug die ersten Seiten des Buches auf. »Es war so wundervoll, jene Tage miterleben zu dürfen. Ich habe diese Seiten bestimmt fünfzigmal gelesen, und ich weine immer noch manchmal vor Freude über die Erinnerungen, die darin bewahrt werden.«

Die Seiten glichen sich nicht alle. Manche waren Listen, andere sahen wie Einträge in einer Enzyklopädie aus. Die allererste Zeile des Buches enthielt ein Datum. 1949, das Jahr bevor die Kommunisten damit anfingen, Tibet zu befreien.

»Es ist ein Verzeichnis dessen, was hiergewesen ist, bevor die Zerstörungen begonnen haben«, sagte Shan voller Ehrfurcht. Es war nicht nur eine Liste der Klöster und anderer heiliger Stätten, es enthielt auch Angaben über die Anzahl und die Namen der Mönche und Nonnen und sogar die Abmessungen der Gebäude. Für viele der Orte hatte man die Beschreibungen der Überlebenden aus erster Hand festgehalten, die das jeweilige Leben dort schilderten. Lokesh hatte geschrieben, als Shan den Raum betrat.

»Ja, die erste Hälfte«, sagte die Nonne und schlug dann eine Seite auf, die durch ein seidenes Lesezeichen markiert wurde. Hier begann eine andere Aufzählung.

Es war eine Liste von Leuten, eine Aneinanderreihung einzelner Namen. Shans Kehle schnürte sich zusammen, während er las. »Das sind alles chinesische Namen.«

»Ja«, flüsterte Lokesh, der plötzlich viel sachlicher klang. »Chinesen.« Dann sackten seine Arme herunter, und er verstummte, als habe er plötzlich sämtliche Kraft verloren.

Die Nonne beugte sich über das Buch und blätterte weiter nach hinten, wo die bislang neuesten Eintragungen vorgenommen worden waren. Nacheinander wies sie auf mehrere Namen, während Shan ihr voller Entsetzen ungläubig zusah. Lin Ziang war darunter, der ermordete Direktor für Religiöse Angelegenheiten, ebenso Xong De, der verstorbene Direktor der Minen, und Jin San, der frühere Leiter des Landwirtschaftskollektivs der Langen Mauer. Allesamt Opfer der Fünf von Lhadrung.

Vierzig Minuten später brachte man ihn im Rollstuhl zurück.

Sie hatten ihm die Augen verbunden, schoben ihn erst knirschend durch Gänge, die aus dem Fels gehauen waren, und dann auf die glatten Flure der Klinik, wobei sie so oft abbogen, daß er den Weg unmöglich hätte zurückverfolgen können. Plötzlich hörte er wieder die Glöckchen, und dann wurde ihm der Schal abgenommen, der als Augenbinde gedient hatte. Er stand wieder im vorderen Korridor. Sonst war niemand zu sehen.

Yeshe war noch immer am Telefon und führte eine heftige Diskussion. Als er Shan sah, legte er auf. »Ich habe alles mögliche ausprobiert. Nichts scheint zu passen.« Er gab Shan den Zettel zurück. »Ich habe noch ein paar andere Möglichkeiten danebengeschrieben. Seitenzahlen, Koordinaten, Prüfziffern, Artikelnummern. Dann bin ich auf die Idee gekommen, wegen seiner Reisepläne nachzuhaken. Es gibt in Lhasa ein spezielles Reisebüro für Regierungsbeamte. Ich habe dort angerufen, um mir die Angaben über seine Reise bestätigen zu lassen.«

»Und?«

»Er wollte nach Dalian, das stimmt, mit einem Tag Aufenthalt in Peking auf der Hinreise. Aber darüber hinaus hatte man für Peking keinerlei Vorkehrungen getroffen. So war zum Beispiel kein Wagen des Justizministeriums angefordert worden, um ihn abzuholen.«

Shan nickte langsam und anerkennend.

»Da Sie noch nicht wieder hier waren, habe ich mich dann ein paar anderen Dingen gewidmet. Zuerst habe ich diese Frau im Büro für Religiöse Angelegenheiten angerufen, Miss Taring. Sie hat gesagt, sie würde das Bestandsverzeichnis der Artefakte persönlich überprüfen, und ich solle später noch mal anrufen. Das habe ich dann auch gemacht, und da hat sie mir mitgeteilt, daß eine bestimmte Liste fehlt.«

»Eine Liste aus dem Verzeichnis?«

Yeshe nickte bedeutungsvoll. »Von einer Bestandsaufnahme im Kloster Saskya vor vierzehn Monaten. Die Transportdokumente besagen, daß man alles nach Lhasa ins Museum geschickt hat. Aber in Miss Tarings Unterlagen fand sich keinerlei Hinweis darauf, was im einzelnen entdeckt wurde. Da hat es wohl eine Panne im System gegeben.«

»Na, ich weiß nicht recht.«

Yeshe schien darüber nachzugrübeln, was er von Shans Reaktion zu halten hatte, und fuhr dann fort. »Und ich habe in diesem Shanghaier Büro angerufen.«

»Die amerikanische Firma?«

»Genau. Ankläger Jao war den Leuten dort kein Begriff, aber als ich Lhadrung erwähnte, hat man sich an eine Anfrage der hiesigen Klinik erinnert. Man sagte mir, es habe einen entsprechenden Schriftverkehr gegeben.«

»Und?«

»Auf einmal Rauschen und Knacken, und dann war die Leitung tot.« Yeshe hielt inne und zog ein Blatt Papier unter seinem Block hervor. »Also bin ich ins Büro der Krankenhausverwaltung gegangen und habe gesagt, ich müsse die Akten der letzten paar Monate überprüfen. Ich habe das hier gefunden; es ist sechs Wochen alt.« Er reichte Shan das Blatt.

Es war ein Brief von Dr. Sung an das Büro in Shanghai. Sie fragte an, ob die Firma ihr ein tragbares Röntgengerät zur Ansicht überlassen würde. Sie wollte den Apparat nach dreißig Tagen zurückgeben, falls er sich als nicht geeignet für die hiesigen Anforderungen erweisen sollte.