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Shan faltete den Brief zusammen und legte ihn in seinen Notizblock. Dann machte er sich auf den Weg zum Ausgang. Nach wenigen Schritten fing er an zu laufen.

Madame Ko führte sie in ein Restaurant neben dem Gebäude der Bezirksverwaltung. »Sie warten am besten«, sagte sie und wies auf einen freien Tisch im hinteren Bereich des Raums. Die Tür neben dem Tisch wurde von einem Kellner bewacht, der mit verschränkten Armen ein Tablett vor der Brust hielt.

Sergeant Feng bestellte Nudeln, und Yeshe entschied sich für Kohlsuppe. Shan nippte ungeduldig an seinem Tee, stand nach zehn Minuten auf und ging zur Tür hinaus. Madame Ko stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn zurück. »Keine Störungen«, tadelte sie ihn und sah dann, wie entschlossen er war. »Lassen Sie mich einen Versuch unternehmen«, seufzte sie und verschwand vorsichtig hinter der Tür. Kurz darauf kam ein halbes Dutzend Armeeoffiziere aus Tans Büro, und Madame Ko bat ihn hinein.

Der Raum stank nach Zigaretten, Zwiebeln und gebratenem Fleisch. Tan saß allein an einem runden Tisch und rauchte, während das Personal das Geschirr abräumte. »Na, wunderbar«, sagte er und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Weißt du, wie ich den Vormittag verbracht habe? Die Öffentliche Sicherheit hat mir eine Standpauke gehalten. Man wird vielleicht beschließen, eine Zerrüttung der zivilen Ordnung zu melden. Man wirft mir vor, ich hätte mich widerrechtlich in die Ermittlungen eingeschaltet. Man hat festgestellt, daß sich im Lager Jadefrühling während der letzten fünfzehn Jahre zwei Sicherheitsverstöße ereignet haben, und zwar alle beide in dieser Woche. Man behauptet, einer meiner Zellenblöcke habe sich in ein verdammtes gompa verwandelt. Man hat sogar angedeutet, es bestehe ein Spionageverdacht. Was weißt du darüber?« Er zog wieder an der Zigarette, atmete langsam aus und musterte Shan durch die Rauchwolke hindurch. »Sie haben außerdem gesagt, ihre Einheiten bei der 404ten würden morgen mit den durchgreifenden Maßnahmen beginnen.«

Shan versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschrocken er war. »Ankläger Jao wurde von jemandem ermordet, den er kannte«, verkündete er. »Einem Kollegen.

Einem Freund.«

Tan zündete sich eine neue Zigarette am Stummel der ersten an und ließ Shan dabei nicht aus den Augen. »Du hast endlich einen Beweis?«

»An jenem Abend ist ein Bote mit einem Zettel gekommen.« Shan erläuterte, was im Restaurant geschehen war, ohne die Identität des Boten zu enthüllen. Tan würde niemals dem Wort eines purba glauben, wenn die Aussage eines Soldaten dagegenstand.

»Das beweist gar nichts.«

»Warum hat der Bote den Zettel nicht Jaos Fahrer gegeben? Jeder kannte Balti. Jeder richtet eventuelle Nachrichten den Fahrern aus. Das ist so üblich. Balti hat draußen im Wagen gewartet. Sie wollten direkt danach zum Flughafen fahren.«

»Vielleicht hat dieser Bote Balti nicht gekannt.«

»Das glaube ich nicht.«

»Dann werden wir Sungpo natürlich sofort auf freien Fuß setzen«, erwiderte Tan mit beißendem Spott.

»Und selbst falls er Balti tatsächlich nicht gekannt hätte, würden die Kellner ihn zum Wagen geschickt haben. Einer der Kellner hat sich ihm auch in den Weg gestellt, weil er glaubte, in Jaos Interesse zu handeln. Doch Jao hatte bereits mit etwas gerechnet oder sich in diesem Moment daran erinnert. Es ging um eine Angelegenheit, die seine sofortige Aufmerksamkeit erforderte. Also hat er mit dem Boten gesprochen. Außer Hörweite des Kellners. Außer Hörweite seines Tisches, an dem die Amerikanerin saß. Außer Hörweite v)n Balti. Und dann ist ihm etwas derart Dringliches mitgeteilt worden, daß er trotz seiner alles andere als spontanen Wesensart sofort seine Pläne geändert hat.«

»Er kannte Sungpo. Vielleicht hat Sungpo die Nachricht geschickt«, sagte Tan.

»Sungpo war in seiner Höhle.«

»Nein. Sungpo war auf der Südklaue, um dort einen Mord zu begehen.«

»Es gibt Zeugen dafür, daß Sungpo seine Höhle nie verlassen hat.«

»Zeugen?«

»Dieser Mann namens Jigme. Der Mönch Je. Beide haben entsprechende Aussagen gemacht.«

»Eine gompa-Waise und ein seniler alter Mann.«

»Mal angenommen, es war Sungpo, der diese Botschaft geschickt hat«, sagte Shan. »Ankläger Jao würde doch niemals allein und ohne Schutz an einen abgelegenen Ort fahren, um sich mit einem Mann zu treffen, den er einst hinter Gitter gebracht hat. Kein Mönch hätte Jao jemals zu einem solchen Verhalten bewegen können. Immerhin wollte der Ankläger auf keinen Fall sein Flugzeug verpassen.«

»Also hat jemand Sungpo geholfen. Jemand hat gelogen.«

»Richtig. Jemand, der Jaos Vertrauen besaß, hat ihn mit Informationen gelockt, die für die Reise des Anklägers wichtig waren und ihm bei seinen geheimen Ermittlungen behilflich sein würden. Informationen, die er in Peking verwenden konnte. Wir müssen mehr darüber herausfinden.«

»Er hatte in Peking nichts Besonderes vor. Du hast Miss Lihuas Fax doch gesehen. Er war bloß auf der Durchreise nach Dahan.« Tan schaute auf die Asche seiner Zigarette, die sich auf der Tischdecke zu einem kleinen Häuflein ansammelte.

»Warum sollte er dann einen Tag Aufenthalt dort einplanen?«

»Das habe ich doch schon gesagt. Um vielleicht einzukaufen oder wegen der Familie.«

»Oder wegen etwas im Zusammenhang mit einer Bambusbrücke.«

»Bambusbrücke?« »Das stand auf einem Zettel in seiner Jacke.«

»Welcher Jacke?«

»Ich habe sein Jackett gefunden.«

Tan wirkte plötzlich ganz aufgeregt. »Du hast den khampa gefunden, nicht wahr? Dem stellvertretenden Ankläger hast du zwar das Gegenteil erzählt, aber in Wahrheit hast du ihn gefunden.«

»Ich bin nach Kham gefahren, und ich habe das Jackett des Anklägers gefunden. Mehr konnten wir nicht erreichen. Balti hatte nichts damit zu tun.«

Tan lächelte billigend. »Ganz schön reife Leistung, mitten in der Wildnis eine einsame Jacke aufzustöbern.« Er drückte seine Zigarette aus und blickte dann ernster wieder auf. »Wir haben Erkundigungen über deinen Leutnant Chang eingezogen.«

»Hat jemand seine Leiche geborgen?«

»Das ist nicht mein Problem.«

Noch ein Himmelsbegräbnis, dachte Shan. »Aber er war Angehöriger der Armee. Einer Ihrer Leute.«

»Er hat nicht zur Armee gehört. Nicht wirklich.«

»Aber er war bei der 404ten.«

Tan hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu veranlassen. »Er hat fünfzehn Jahre lang dem Büro für Öffentliche Sicherheit angehört. Erst vor einem Jahr wurde er zur Armee versetzt.«

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Shan. Niemand verließ die Elitetruppe der Kriecher, um der Armee beizutreten.

Tan zuckte die Achseln. »Es sei denn, er ist nicht freiwillig gegangen.«

»Und Sie haben nichts davon gewußt?«

»Die Versetzung wurde der Armee erst zwei Tage vor seinem Eintreffen gemeldet.«

»Es könnte noch etwas anderes dahinterstecken«, gab Shan zu bedenken. »Vielleicht hat er auch weiterhin für einen Angehörigen der Öffentlichen Sicherheit gearbeitet.«

»Ohne mein Wissen?«

Shan sah ihn nur an.

Tan preßte die Lippen zusammen und dachte eine Weile darüber nach. »Diese Schweinehunde«, stieß er wütend hervor.

»Wo hat Leutnant Chang vorher Dienst getan?«

»Südlich von hier, in der Grenzregion. Unter Major Yang.«

Also hatte er doch einen Namen, dachte Shan. »Was wissen Sie über diesen Major Yang?«

Tan zuckte die Achseln. »Hart wie ein Fels. Berüchtigt für seine Erfolge bei der Schmugglerjagd. Macht keine Gefangenen. Wird eines Tages General sein.«

»Weshalb, Oberst, sollte ein solch hochgeschätzter Offizier sich die Mühe machen, die Verhaftung Sungpos persönlich vorzunehmen?«