Tans Stirnrunzeln verstärkte sich. »Ist das sicher?«
Shan nickte.
»Ein Mann wie er geht, wohin er will«, sagte Tan und wirkte dabei nicht überzeugt. »Er ist mir keine Rechenschaft schuldig, sondern gehört zur Öffentlichen Sicherheit. Falls er dem Justizministerium behilflich sein möchte, kann ich ihn nicht davon abhalten.«
»Falls ich als leitender Ermittler für die Öffentliche Sicherheit tätig wäre, würde ich wohl kaum in einem leuchtendroten Wagen quer durch den Bezirk fahren oder mit einem alles andere als unauffälligen Helikopter einen kleinen Ausflug aufs Land machen.«
»Vielleicht bist du nur verbittert. Wenn ich mich recht erinnere, wurde deine Hafteinweisung vom Hauptquartier des Büros unterzeichnet. Qin hat es angeordnet, aber das Büro hat es durchgeführt.«
»Vielleicht«, räumte Shan ein. »Aber dennoch hat Leutnant Chang versucht, uns zu ermorden. Und Chang hat vermutlich für den Major gearbeitet.«
Tan schüttelte zweifelnd den Kopf. »Chang ist tot, und du hast nach wie vor eine Aufgabe zu erledigen.« Er stand auf, als wolle er gehen.
»Haben Sie je von dem Lotusbuch gehört?« fragte Shan. Tan blieb an der Tür stehen. »Das ist ein Buch der Buddhisten.«
»Den Luxus religiöser Studien kann ich mir leider nicht erlauben«, erwiderte Tan ungeduldig.
»Es handelt sich eher um ein Verzeichnis«, sagte Shan. »Die Aufzeichnungen haben vor ungefähr zwanzig Jahren begonnen. Ein Namensverzeichnis. Mit Orten und...«, er suchte nach einem passenden Begriff, »... Ereignissen.«
»Ereignissen?«
»In einem Abschnitt werden fast ausschließlich Han-Chinesen aufgeführt. Zu jedem Namen gibt es eine Beschreibung. Von seiner oder ihrer Rolle bei der Zerstörung eines Klosters, Von der Teilnahme an Exekutionen. Oder an der Plünderung von Schreinen. Vergewaltigungen. Morde. Folter. Die Schilderungen sind sehr anschaulich. Das Buch wird weitergereicht, um neue Einträge ergänzt und aktualisiert. Es gilt inzwischen als eine Art Auszeichnung, zu der Liste der Autoren zu gehören.«
Tan war erstarrt. »Unmöglich!« rief er wütend. »Das wäre ein Akt gegen den Staat. Verrat.«
»Ankläger Jao stand auch in dem Buch. Unter seiner Leitung wurden die fünf größten gompas im Bezirk Lhadrung zerstört. Dreihundertzwanzig Mönche sind verschwunden. Weitere zweihundert wurden in Gefängnisse abtransportiert.«
Tan ließ sich auf einen Stuhl gleiten. Er war auf einmal wieder ganz bei der Sache. »Aber das wäre der Beweis. Der Beweis, daß die Radikalen es auf Jao abgesehen hatten.«
»Lin Ziang vom Büro für Religiöse Angelegenheiten wurde ebenfalls erwähnt«, fuhr Shan fort. »Auf seinen Befehl wurden fünfundzwanzig Klöster und Chorten in Westtibet zerstört. Er hat Antiquitäten im Wert von geschätzten zehn Millionen Dollar nach Peking schaffen lassen, wo sie eingeschmolzen wurden, um das Gold abzuschöpfen. Von ihm stammte die Idee, Nonnen in die Kasernen zu schaffen, damit die Soldaten sich mit ihnen vergnügen konnten. Xong De vom Ministerium für Geologie stand auch drin. Als er jünger war, hat er ein Gefängnis geleitet. Er hatte eine Vorliebe für Daumen.«
»Ich will das Buch!« brüllte Tan. »Und ich will diejenigen, die es geschrieben haben.«
»Es existiert nicht nur in einem Band. Es wird weitergegeben. Man erstellt per Hand Kopien. Es befindet sich überall im Land. Und sogar im Ausland.«
»Ich will diejenigen, die es geschrieben haben«, wiederholte Tan etwas ruhiger. »Was drinsteht, ist unerheblich. Das ist bloß Geschichte. Aber die Tatsache, daß jemand es aufschreibt...«
»Ich dachte eigentlich«, unterbrach Shan ihn, »daß bereits diese eine Untersuchung mehr ist, als wir bewältigen können.«
Tan zog eine Zigarette aus der Schachtel und klopfte mit ihr nervös auf den Tisch, als müsse er Shan notgedrungen recht geben.
»Im sechzehnten Jahrhundert wurden von den heidnischen Armeen im Kampf gegen den Buddhismus zahlreiche Greueltaten begangen«, fuhr Shan fort. »Ich kenne Häftlinge in der 404ten, die auch heute noch in allen Einzelheiten davon berichten können, als wäre es erst gestern geschehen. Auf diese Weise wird denen Ehre erwiesen, die leiden mußten. Und die Schande der Täter gerät ebenfalls nicht in Vergessenheit.«
Tans Wut verflüchtigte sich. Er hatte nicht genug Kraft, um mehr als einen Kampf zur gleichen Zeit auszufechten, vermutete Shan.
»Hier ist dein Beweis, daß die Morde miteinander in Verbindung gestanden haben«, stellte der Oberst fest.
»Ich habe daran keinerlei Zweifel.«
»Aber es stützt doch nur meine Ansicht über die zersetzende Kraft der gesellschaftsfeindlichen Bestrebungen der Minderheiten.«
»Nein. Die purbas wollten, daß ich von dem Buch erfuhr, um sich selbst zu schützen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Die purbas wollen ebenfalls, daß wir die Morde aufklären. Sie haben erkannt, daß die Öffentliche Sicherheit sie vernichten würde, falls man dort von dem Buch erführe und auf den Gedanken käme, es mit den Morden in Verbindung zu bringen. Einer der Fünf von Lhadrung ist noch übrig. Fehlt nur noch ein Mord, den man ihm in die Schuhe schieben kann. Und falls noch eine hochgestellte Persönlichkeit ermordet wird, rücken die Kriecher dauerhaft hier ein. Kriegsrecht. Lhadrung würde um dreißig Jahre zurückgeworfen.«
»Eine hochgestellte Persönlichkeit?«
»Es stand noch ein weiterer Name in dem Buch«, sagte Shan. »Aufgeführt wegen der Auslöschung von achtzig gompas. Hat außerdem zehn Chorten zerstört, um eine Raketenbasis zu errichten. Verantwortlich für das Verschwinden einer Wagenladung khampa-Rebellen, die ins lao gai transportiert werden sollten. Im April 1963.
Es handelt sich um die einzige andere Person aus dem Lotusbuch, die sich derzeit in Lhadrung befindet und noch am Leben ist. Ein Mann, der beaufsichtigt hat, wie weitere fünfzehn gompas niedergebrannt wurden. Zweihundert Mönche sind in den brennenden Gebäuden umgekommen«, zählte Shan mit eisiger Stimme auf. Er riß das Blatt, auf dem er diesen Eintrag festgehalten hatte, aus seinem Notizblock und legte es vor Tan auf den Tisch. »Es ist Ihr Name.«
Kapitel 14
Draußen stand Sergeant Feng nervös zwischen zwei Kriechern.
»Genosse Shan!« rief Li Aidang aus einer dunkelgrauen Limousine, die gegenüber dem Restaurant geparkt war. Der stellvertretende Ankläger öffnete die Tür und bedeutete Shan, er möge einsteigen. »Ich dachte, wir könnten vielleicht ein wenig plaudern. Sie wissen schon. Kollegen, die an demselben Fall arbeiten.«
»Sie sind also heil wieder zurückgekommen. Kham ist ja eine unberechenbare Gegend«, merkte Shan trocken an. Er zögerte, weil ihm die Unsicherheit in Fengs Blick auffiel. Dann nahm er neben Li auf der Rückbank Platz.
»Wissen Sie, wir haben ihn gefunden«, behauptete Li.
Shan zwang sich, nicht nach dem Köder zu schnappen.
»Genaugenommen haben wir einen Klan im Tal davon überzeugt, uns zu verraten, wo sein Lager sich befindet.«
»Überzeugt?«
»Ging ganz einfach«, sagte der stellvertretende Ankläger selbstgefällig. »Ein Helikopter, eine Uniform. Einige der Alten haben nur gewinselt. Wir fanden heraus, wo wir nachschauen mußten, aber als wir dort ankamen, waren die Leute verschwunden. Die Asche des Feuers war noch warm. Ansonsten war keine Spur von ihnen zu entdecken.« Li musterte Shan. »Als habe man sie gewarnt.«
Shan zuckte die Achseln. »Das ist mir bei Nomaden schon öfter aufgefallen. Diese Leute neigen dazu, ihren Standort zu wechseln.«
Einer der Kriecher schlug die Tür zu, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Als sie wegfuhren, drehte Shan sich um und sah, daß der andere Soldat sich vor die Fahrertür ihres Wagens stellte und Sergeant Feng den Weg versperrte.