Ein dunkle Gestalt auf dem Vordersitz wandte sich um und sah Shan wortlos an.
»Sie erinnern sich bestimmt noch an den Major«, sagte Li.
»Major Yang, wenn ich recht unterrichtet bin«, stellte Shan fest. »Held der Öffentlichen Sicherheit.«
»Genau«, bestätigte Li knapp.
Der Offizier zog einen Mundwinkel hoch, was wohl als Gruß gemeint war, und drehte sich dann wieder nach vorn.
Mit hoher Geschwindigkeit verließen sie die Stadt. Immer wieder ertönte die Hupe, um Fußgänger zu verscheuchen oder andere Fahrzeuge zum Ausweichen zu veranlassen, sobald diese es wagten, der Limousine in die Quere zu kommen.
Zehn Minuten später erreichten sie einen immergrünen Wald in einem kleinen Tal, knapp fünf Kilometer von der Hauptstraße entfernt. Nachdem sie die Ruinen einer alten mani-Mauer passiert hatten, wirkten die Bäume plötzlich sehr viel ordentlicher. Das war das Werk eines Gärtners. Am Straßenrand blühten Frühlingsblumen neben einem geharkten Kiesweg.
Sie kamen an einer weiteren Mauer vorbei, die wesentlich höher als die erste war, und fuhren auf den Hof eines sehr alten gompa. Am anderen Ende des Hfs, den man frisch gepflastert hatte, erhob sich ein Turm aus Steinen und grauen Ziegeln und davor ein kleiner Chorten von etwa doppelter Mannshöhe. Die Mauern waren neu verputzt und zum Teil auch schon neu bemalt worden. Entlang der gegenüberliegenden Wand standen mehrere Statuen, einige davon mit Gold überzogen, die Buddha und andere religiöse Figuren darstellten. Sie bildeten eine unordentliche Reihe; manche schauten zur Wand, andere neigten sich zur Seite und wieder andere hatte man aneinandergelehnt. Shan hatte das Gefühl, er würde eine wohlhabende, etwas verwahrloste Villa besuchen. Als sie aus dem Wagen stiegen, schwebte der schwache Duft von Pfingstrosen über den Hof.
Der Major verschwand hinter einem großen Tor. Li führte Shan in den Vorraum der Versammlungshalle, schaltete eine Glühbirne ein und wies auf einen groben Holztisch, um den herum einige Stühle standen. Shan schaute auf die Verkabelung, die erst kürzlich installiert worden war. Nur wenige der entlegenen Klöster wurden an die Elektrizitätsversorgung angeschlossen.
Li vollführte eine weit ausholende Geste, die den ganzen Raum umfaßte. »Wir haben alles in unserer Macht stehende getan, um es zu erhalten«, sagte er mit gekünstelter Demut. »Wissen Sie, das ist jedesmal wieder viel Arbeit.«
Der Boden bestand noch aus den ursprünglichen Holzbohlen, wie man sie Jahrhunderte zuvor von Hand zurechtgeschnitten hatte. Er war von Brandstellen übersät, die von Zigaretten stammten.
»Hier sind ja gar keine Mönche.«
»Die kommen noch.« Li durchschritt den Raum und wirkte dabei wie ein Eigentümer, der seinen Grundbesitz inspizierte. Entlang der Innenwand waren Haken angebracht, auf die man Priestergewänder gehängt hatte, um den Anschein eines bewohnten gompa zu schaffen. »Direktor Wen kümmert sich um alles. Ein Zwischenstop für die Touristen. Einige Neuinszenierungen. Sollen die Amerikaner ruhig ein paar Butterlampen anzünden und etwas Weihrauch verbrennen.«
»Neuinszenierungen?«
»Zeremonien. Wegen der Atmosphäre.« Li suchte sich eines der Gewänder aus, eine antike Zeremonienrobe mit goldenem Brokat und seidenen Einsatzstreifen, auf denen Wolken und Sterne abgebildet waren. Er legte sein Anzugjackett ab und zog sich die Robe über. Zufrieden strich er mit den Fingern über die Ärmel und fuhr fort. »Wir treffen die letzten Vorkehrungen. Es sind nur noch ein paar Tage, bis die Leute ankommen.« Er stolzierte wie ein eitler Gockel umher und versuchte, in den kleinen Fensterscheiben einen Blick auf sein Spiegelbild zu erhaschen »Für ein paar zusätzliche Dollar erlauben wir den Amerikanern, diese Gewänder anzuziehen und Gebetsmühlen zu drehen. Im Hintergrund gibt's dann Mantras vom Band. Und wer noch etwas mehr Geld ausgeben möchte, kann in einem einstündigen Kurs lernen, wie ein Buddhist zu meditieren.«
»So eine Art buddhistischer Vergnügungspark.«
»Ganz genau! Wir denken so oft das gleiche!« rief Li und wurde sofort wieder ernst. »Aus diesem Grund muß ich auch mit Ihnen sprechen, Genosse. Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich bin Ihnen gegenüber nicht völlig aufrichtig gewesen. Aber jetzt möchte ich, daß Sie etwas begreifen. Ich führe gleichzeitig noch eine andere Untersuchung durch, unabhängig von dem Mord an Ankläger Jao. Eine noch wichtigere Untersuchung. Sie haben ja gar keine Ahnung, welchen Schaden Sie anrichten könnten, falls Sie so weitermachen wie bisher. Sie machen es uns sehr schwer, das Richtige zu tun. Sie sind nicht in Ihrem Element. Sie werden benutzt.«
»Ich bin verwirrt«, sagte Shan und musterte ein Regal mit wertlosem Plunder, vor dem ein Tisch stand. »Was genau meinen Sie denn mit >das Richtige<?« Es gab kleine Yaks und Schneeleoparden aus Keramik sowie eine ganze Reihe von muskulösen Buddhas, die chinesische Flaggen trugen.
Li zog sich einen Hocker heran und setzte sich neben Shan. Daß dabei die Nähte des alten Gewands an den Schultern vernehmlich krachten, interessierte ihn nicht. »Tan kann sich alles mögliche erlauben. Das ist ein Privileg seiner Stellung. Aber Sie können das nicht. Sie sind ein Häftling, Sie waren ein Häftling, und Sie werden ein Häftling sein. Weder Sie noch ich können irgend etwas daran ändern.«
»Stellvertretender Ankläger Li. Ich habe schon vor vielen Jahren jegliche Möglichkeit verloren, mir irgend etwas erlauben zu können.«
Li lachte und zündete sich eine Zigarette an. »Kehren Sie zur 404ten zurück«, sagte er plötzlich.
»Das liegt nicht in meiner Macht.«
»Schließen Sie sich dem Streik an. Wir könnten zulassen, daß Sie ihn beenden. Sie wären ein großer Held, es gäbe einen lobenden Vermerk in der Akte, und womöglich hätten Sie zahlreiche Leben gerettet.«
»Was genau bieten Sie mir an?«
»Wir können die Truppen wieder abziehen.«
»Soll das heißen, Sie pfeifen die Kriecher zurück, falls ich meine Ermittlungen einstelle?«
Li ging zu dem Regal mit Keramik-Andenken. Er nahm einen der Buddhas und pustete in den Sockel. Der Figur stieg Rauch aus den Augen. »Es würde zahlreiche Probleme lösen.«
»Sie haben den Grund dafür noch nicht erwähnt.«
»Offenbar gibt es Dinge, die ich Ihnen leider nicht mitteilen darf.«
»Sie haben mich also hergebracht, um mir zu erzählen, daß Sie mir gar nichts erzählen werden.«
Li trat wieder an Shans Seite und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich mag Ihren Sinn für Humor. Man merkt, daß Sie aus Peking stammen. Eines Tages, wer weiß? Sie könnten gut zu uns passen.« Er ging um Shan herum. »Ich habe Sie hergebracht, um Sie zu retten. Der Major und ich suchen nach einer Möglichkeit, großzügig zu sein. Es hat schon zu viele Opfer gegeben, und es besteht wirklich kein Grund dafür, Ihnen weiterhin weh zu tun. Falls Minister Qin aus Peking Sie im lao gai sehen will, ist das allein eine Angelegenheit zwischen Ihnen und ihm. Doch Minister Qin ist sehr alt. Eines Tages bekommen Sie vielleicht eine zweite Chance. Ich kann sehen, daß Sie ein intelligenter Mann sind. Irgendwann werden Sie für das Volk wieder von Nutzen sein. Aber nicht, wenn Sie sich an Oberst Tan halten. Er ist sehr gefährlich.«
»Ich stelle für ihn keine Bedrohung da.«
Li musterte seine Zigarette. »So habe ich das nicht gemeint. Er manipuliert Sie. Er glaubt, er könne sich über den offiziellen Dienstweg hinwegsetzen. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum er das Büro des Anklägers meidet?«
Shan antwortete nicht.
»Oder warum er Sie mit unzuverlässigen Personen arbeiten läßt?«
»Unzuverlässigen Personen?«
»Diskreditierten Quellen. Wie Dr. Sung.«
»Ich respektiere Dr. Sungs medizinisches Fachwissen.«