Li zuckte die Achseln. »Aber genau das meine ich ja. Man hat Ihnen nichts von Dr. Sungs Problemen und Vorurteilen erzählt. Die turnusgemäße Zurückversetzung nach Hause wurde ihr wegen schwerer Pflichtversäumnisse verwehrt. Sie hat auf eigenen Entschluß für eine Woche ihren Posten verlassen, um sich um unbefugte Patienten zu kümmern.«
»Unbefugte Patienten?«
»Eine Schule im Hochgebirge. Sehr abgelegen. Niemand in Lhasa hatte je davon gehört. Die Kinder sind an irgendwas gestorben. Da oben gibt es Krankheiten, die im Rest der Welt schon längst ausgerottet wurden.«
»Die Ärztin wurde also dafür bestraft, daß sie sterbenden Kindern geholfen hat?«
»Darum geht es nicht. Für solche Fälle ist vorgeschrieben, daß die Eltern ihre Kinder in das Krankenhaus zu bringen haben. Dr. Sung hat eine Reihe wichtiger Patienten in der Klinik zurückgelassen. Manche davon waren Parteimitglieder. Und jetzt wird sie nicht nach Hause zurückkehren.«
»Damit ist Dr. Sungs Karriere praktisch beendet.« Shan war versucht zu fragen, wann die Ärztin diesen unüberlegten Fehler begangen hatte. Man hatte sie zunächst zum Abendessen eingeladen, ihr aber später die Mitgliedschaft im Bei Da-Verband verweigert. Er erinnerte sich daran, wie nervös sie vor ihm die Parteilehrsätze über die Zurückgebliebenheit der tibetischen Minderheit und die Vorgehensweise bei der Behandlung unproduktiver Patienten in den Bergen heruntergebetet hatte. Diese Worte waren ihr bei einer tamzing- Sitzung eingebleut worden.
»Ich sehe, Sie verstehen«, sagte Li mit gekünstelter Dankbarkeit. »Sie bringen mich in eine peinliche Lage, Genosse Shan. Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen vertraue, nicht wahr?«
Shan erwiderte nichts.
»Das hier ist höchst unkonventionell. Das Büro des Anklägers im vertraulichen Gespräch mit einem überführten Kriminellen.«
»Ich hatte nie eine Verhandlung, falls das hilft.«
Li hob die Augenbrauen und nickte langsam. »Ja, Genosse, guter Hinweis. Kein Verurteilter, bloß ein Häftling.« Er zündete sich eine zweite Zigarette am Stummel der ersten an. »Gut. Sie sollten davon erfahren. Wir führen eine Korruptionsuntersuchung durch. Die größte, die es je in Tibet gegeben hat. Wir waren beinahe soweit. Jao wollte seine Erkenntnisse demnächst bekanntgeben. Bald können wir zuschlagen. Aber Sie werden noch dafür sorgen, daß die Schuldigen die Flucht ergreifen.«
»Demnach wurde Jao von einem Verdächtigen in diesem Korruptionsfall ermordet?« fragte Shan. Das wäre eine sehr ausgewogene Lösung. Genau die Art von Erklärung, die dem Justizministerium gefallen würde.
»Nicht genau. Es ist nur so, daß dieser gesellschaftsfeindliche Mönch Sungpo nicht wußte, was für Auswirkungen seine Tat nach sich ziehen würde. Mit Jaos Tod wurden vorerst alle Anstrengungen zunichte gemacht. Wir mußten den Fall ganz neu aufbauen. Immerhin schulden wir es Jao, die Sache zum Abschluß zu bringen. Aber Sie wirbeln zuviel Staub auf. Ihnen ist es zu verdanken, daß unsere Verdächtigen langsam Angst bekommen.«
»Falls Sie damit andeuten wollen, daß Ankläger Jao beabsichtigt hat, Oberst Tan zu verhaften, dann hatte Tan ein sehr viel stärkeres Motiv für den Mord als jeder andere. Klagen Sie ihn wegen der Tat an, und schon kann Sungpo freigelassen werden. Daraufhin können die Kriecher sich wieder von der 404ten zurückziehen. Das ist eine Lösung.«
»Liefern Sie mir einige Beweise.«
»Gegen Oberst Tan?« fragte Shan. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihnen lägen bereits entsprechende Beweise vor.«
»Der Abgang der alten Garde dürfte Ihnen doch wohl mehr als gelegen kommen.«
»Ich bevorzuge in dieser Hinsicht den natürlichen Lauf der Dinge«, sagte Shan nachdenklich.
»Sie können doch unmöglich glauben, er würde sie beschützen.«
»Ich muß mir zum Glück schon lange keine Gedanken mehr um den Schutz meiner Person machen. Der Staat hat jetzt gewissermaßen das Sorgerecht für mich.«
Ein höhnisches Lächeln machte sich auf Lis Gesicht breit. »Sie sind seine Rückversicherung. Sein Sicherheitsnetz. Falls es Ihnen nicht gelingt, einen Fall aufzubauen, wird er eben selbst einen erschaffen. Er wird eine eigene Fallakte haben, auch wenn Sie letztendlich keine zustande bekommen. All Ihre Handlungen können als der Versuch ausgelegt werden, die Radikalen zu schützen. Allem die Behinderung der Justiz ist bereits eine lao gai-Anklage für sich. Ich habe es Ihnen gesagt. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Tan hat sich nicht allein deswegen für Sie entschieden, weil Sie früher als Ermittler gearbeitet haben. Sie wurden ausgewählt, weil Sie erklärtermaßen schuldig sind. Und entbehrlich.«
Dies war die einzige von Lis Behauptungen, die Shan dem stellvertretenden Ankläger glaubte. Shan sah, wie seine Finger sich anscheinend aus eigenem Antrieb bewegten. Sie formten ein mudra. Der Diamant des Verstands.
»Niemand wird sich für Sie einsetzen. Niemand wird sagen, Shan ist ein Modellhäftling, ein Held der Arbeit. Tan kann nicht einmal Ihren Namen auf den Bericht setzen, denn Sie existieren gar nicht. Andererseits besteht auch keine Veranlassung dafür, daß Sie ein Opfer abgeben müssen.«
So deutlich hatte Li seine Drohung noch nie in Worte gefaßt.
Shan musterte das mudra. »Dieser Ort hier«, sagte er in plötzlicher Erkenntnis, als er den Blick ein weiteres Mal durch den Raum schweifen ließ. »Das hier ist der Sitz des Bei Da-Verbands.«
Shan spürte, daß Li hinter ihm sich abrupt bewegte. »Es ist ein altes gompa. Es dient vielerlei Zwecken.«
»Ich habe eine Liste der gompas gesehen, denen die Genehmigung zum Wiederaufbau erteilt wurde. Dieses war nicht darunter.«
»Genosse, ich mache mir Sorgen um Sie. Sie wollen einfach nicht zuhören, wenn jemand versucht, Ihnen zu helfen.«
»Hat dieses gompa eine Lizenz?«
Li seufzte, zog die Zeremonienrobe aus und warf sie auf einen Hocker. »Es wurde vom Büro für Religiöse Angelegenheiten als Mustereinrichtung eingestuft. Es benötigt keine Lizenz.«
Shan hob die Hände. »Ich bewundere Ihre Fähigkeit, das alles unter einen Hut zu bekommen. Für mich wirkt es überaus verwirrend. Falls eine Gruppe, die von Peking bezahlt wird, sich zusammenfindet, um über die Erziehung des Volkes zu diskutieren, dann ist das lebendiger Sozialismus. Aber falls Leute in roten Gewändern dies tun, handelt es sich um eine unerlaubte kulturelle Aktivität.«
Li ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Sie waren sich beide darüber bewußt, wie gefährlich dieses Spiel wurde. »Sie sind nicht mehr auf dem neuesten Stand, Genosse. Hinsichtlich der Definition sozialistischer Vorgehensweisen zur Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Volksgruppen hat es sehr viele Fortschritte gegeben.«
»Meine Kenntnisse können sich selbstverständlich nicht mit Ihrer Ausbildung messen«, räumte Shan ein. Er stand auf und ging zur Tür.
»Wohin wollen Sie?« fragte Li verärgert.
»Die Sonne kommt durch die Wolken.« Bevor Li weitere Einwände erheben konnte, trat Shan bereits hinaus auf den Hof.
Ein Lieferwagen mit dem Abzeichen des Büros für Religiöse Angelegenheiten war eingetroffen. Arbeiter stellten auf einer Seite des Hofs Bänke auf, als solle hier ein Vortrag gehalten werden. Angeleitet wurden sie von der jungen Frau, die Shan in Direktor Wens Büro gesehen hatte - Miss Taring, die Archivarin.
Sobald Shan sie sah, begriff er die Zusammenhänge. Die purbas hatten ihm in ihrem unterirdischen Zufluchtsort erzählt, sie wüßten von Shans Gespräch mit Direktor Wen wegen des Kostüms. Es gab nur eine einzige Person, die ihnen davon berichtet haben könnte. Miss Taring hatte die purbas mit den entsprechenden Informationen versorgt, oder vielleicht war sie auch selbst eine purba. Er starrte sie an, als sähe er sie zum erstenmal. Ihr Haar war am Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammengefaßt, und sie trug eine weiße Bluse und einen langen dunklen Rock, wodurch sie überaus professionell wirkte, eine Vorzeigearbeiterin. Sie hielt inne, nickte beiläufig und wollte sich gerade umdrehen, als ihr sein Blick auffiel. Langsam wandte sie sich ab, um den Arbeitern einige Anweisungen zu erteilen. Ihre Hände hatte sie auf dem Rücken verschränkt. Shan wollte ebenfalls kehrtmachen, als ihm auffiel, daß ihre Finger sich bewegten. Sie ballte die Fäuste, so daß die Daumen sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gegenüberstanden und die Hände sich beinahe berührten. Shan hatte es zuvor schon gesehen; dieses mudra gehörte zu den Opferzeichen. Aloke, die Lampen, deren Licht die Welt erhellen sollte.