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Miss Taring zeigte das mudra nur ganz kurz und schaute vorsichtig zum hinteren Bereich des Hofs. Dann ging sie zur gegenüberliegenden Mauer, blieb neben einem der großen Buddhaköpfe stehen und blickte zur Seite auf etwas, das Shan nicht sehen konnte.

Shan beobachtete sie verblüfft und ging dann auf die Frau zu. Noch bevor er die Wand erreichte, bewegte Miss Taring sich wieder von dort weg und beachtete ihn nicht weiter. Er stellte sich an dieselbe Stelle, an der zuvor sie gestanden hatte, und versuchte, sich über ihre Absicht klarzuwerden. Zwischen den Gebäuden gab es eine Lücke, die zugemauert werden sollte, allerdings war die Arbeit daran noch nicht abgeschlossen. Shan konnte über die unfertige Mauer hinweg auf einen eleganten Innenhof blicken. Ein Mann, der wie ein Kellner gekleidet war, trug ein Tablett mit hohen Gläsern. Eine große hölzerne Wanne mit brodelndem Wasser war teilweise in den Boden eingelassen. Zwei schlanke junge Frauen in Bikinis stiegen soeben hinein.

Verwirrt schaute Shan langsam in die andere Richtung und erstarrte vor Schreck. Dort befand sich ein niedriges Gebäude, ein ehemaliger Stall, der als Garage genutzt wurde. Darin standen zwei rote Land Rover.

Aus dem Augenwinkel sah Shan, daß Li sich näherte. Er drehte sich um und schlenderte gemächlich an den Statuenköpfen vorbei, so daß Li ihn einholen konnte.

»Ist Leutnant Chang von der 404ten ein Angehöriger Ihres Bei Da-Verbands?« fragte er.

Li runzelte die Stirn. »Ich glaube, er hat sich für die Mitgliedschaft qualifiziert«, lautete die rätselhafte Antwort.

»Und was ist mit einem Soldaten namens Meng Lau?«

Li ignorierte die Frage und trat näher an ihn heran. »Sie sollten Zeuge werden«, bot Li an. »Für jemanden in Ihrer Position muß es doch ungeheuer schwierig sein, derartige Ermittlungen zu leiten. Werden Sie statt dessen doch ein kooperativer Zeuge.«

»Ein Zeuge aus der 404ten?«

»Sagen wir, ein Zeuge, dem bei der 404ten kürzlich eine vertrauensvolle Aufgabe zugewiesen wurde. Ich werde mich für Sie verbürgen. Sie sind stets gewissenhaft, man hat Ihnen noch nie eine Lüge vorgeworfen, so was in der Art. Ihre Probleme in Peking haben ganz andere Ursachen gehabt. Das Tribunal müßte gar nichts davon erfahren.«

»Aber ich habe nichts zu sagen.« Shan ging weiter. In einer Ecke des Hofs war ein Wasserbecken. Es bestand aus jahrhundertealten Steinblöcken, in die man anmutige Muster gemeißelt hatte, und wurde von kleinen silbernen Fischen bevölkert. Einige Lotusblüten trieben dann und auch eine leere Bierflasche.

»Es wird Sie vielleicht überraschen, wie viel Sie erzählen könnten«, sagte Li hinter ihm.

Shan trat an den Rand des Beckens und drehte sich um. »Sie haben mir noch nicht die genaue Art Ihrer Korruptionsuntersuchung erläutert.« Von hier aus konnte er eine kleine Hügelkuppe direkt hinter dem Areal sehen. Darauf befand sich ein prächtiger sitzender Buddha von mindestens sechs Metern Höhe. Er trug einen ungewohnten Kopfschmuck. Jäh erkannte Shan, worum es sich handelte. Jemand hatte eine Satellitenschüssel am Kopf des Buddhas festgeschraubt.

Li stellte sich neben ihn und flüsterte es ihm ins Ohr. »Unregelmäßigkeiten in den Gefängnisbüchern, ungeklärte Abhebungen von staatlichen Konten, verschwundene Aktiva des Militärs.«

»Soll das heißen, Tan und Direktor Zhong seien Verschwörer? Zhong hat auch damit zu tun?«

»Würden Sie ihn denn gern darin verwickelt sehen?«

Shan starrte ihn an und fragte sich, ob er richtig gehört hatte. »Ich müßte Einblick in Ihre Unterlagen nehmen.«

»Unmöglich.«

»Lassen Sie mich mit Miss Lihua sprechen.«

»Jaos Sekretärin? Wieso?«

»Sie soll bestätigen, daß Jao in einem Korruptionsfall ermittelt hat. Sie hätte auf jeden Fall davon gewußt.«

»Sie wissen, daß sie im Urlaub ist.« Li zuckte die Achseln, als er Shans unzufriedenen Gesichtsausdruck bemerkte. »Was soll's. Sie können ihr ein Fax schicken.«

»Ich traue Fax-Mitteilungen nicht.«

»Na gut, sobald sie wieder hier ist.« Er schaute auf die Uhr. »Der Wagen wird Sie zurück in die Stadt bringen.«

Shan stieg ein, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er wußte, daß Li log, wenn dieser behauptete, er wolle Shan nicht als Opfer sehen. Aber log er, weil er wegen der Ermittlungen beunruhigt war oder einfach nur aus all den üblichen Gründen?

Li beugte sich zum Fenster hinein. Das höhnische Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. »Verdammt, Shan. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das jetzt erzähle. Die Sache ist schlimmer, als Sie es sich jemals vorstellen könnten. Es werden Köpfe rollen, und niemand wird da sein, um auf Ihren Kopf aufzupassen. Sie müssen zur 404ten zurückkehren, und ich muß meinen Fall abschließen, bevor der Wahnsinn seinen Lauf nimmt.«

»Der Wahnsinn?«

»Man wird ein Spionageverfahren eröffnen. Jemand in Lhadrung hat Computerdisketten gestohlen, auf denen sich geheime Informationen über die Grenzverteidigungsanlagen der Öffentlichen Sicherheit befinden.«

Shan sah, wie Dr. Sung an Yeshe vorbeiging, der auf der Bank im Gang saß, und ihr dunkles Büro betrat. Sie warf ihr Klemmbrett auf einen Stuhl, schaltete eine kleine Schreibtischleuchte ein und schob einen Teller mit halbverzehrtem Gemüse beiseite. Dann drückte sie einen Knopf an einem kleinen Kassettenrekorder und wandte sich einem Schachbrett zu. Die Partie hatte bereits begonnen. Opernmusik erklang. Sie zog einen Bauern und drehte das Brett um. Sie spielte gegen sich selbst.

Nach zwei Zügen hielt sie inne und schaute nach draußen zu der Bank. Mit einem Fluch auf den Lippen drehte sie den Kopf der Lampe nach oben, so daß Shans Stuhl in der Ecke des Zimmers erhellt wurde.

»Das faszinierendste an einer Untersuchung ist die Erkenntnis, wie subjektiv die Wahrheit eigentlich ist«, stellte Shan fest. Er klang sehr müde. »Sie hat so viele Dimensionen. Politische. Berufliche. Doch die sind noch leicht zu erkennen. Am schwierigsten ist es, die persönliche Dimension zu begreifen. Wir finden so viele Möglichkeiten, die Lügen zu glauben und die Wahrheit zu ignorieren.«

Die Ärztin schaltete die Musik ab und starrte zerstreut auf das Schachbrett. »Die Buddhisten würden sagen, daß jeder von uns seine eigene Methode hat, den inneren Gott zu ehren«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Die Worte erschütterten Shan. Plötzlich wußte er nicht mehr, was er sagen sollte. Am liebsten hätte er die Frau in Ruhe gelassen und nicht an ihr Elend gerührt, aber das konnte er nicht.

»Wann haben Sie damit aufgehört, Ihren zu ehren?«

Er sehnte sich nach einer ihrer scharfen, wütenden und schlagfertigen Antworten, doch er erntete lediglich Schweigen.

Er entfaltete Sungs Brief an die amerikanische Firma und ließ ihn vor ihr auf den Tisch fallen. »Hatten Sie das Gefühl, Sie würden mich anlügen, als Sie vorgaben, nichts von Jaos Interesse an einem Röntgengerät zu wissen? Oder haben Sie tatsächlich selbst daran geglaubt, weil offiziell nur Ihr eigener Name erwähnt wurde?«

»Ich habe nur gesagt, solche Apparate seien zu teuer.«

»Gut. Demnach wollten Sie also nicht lügen.«