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Die Pfeife blies zum Hofgang, dann noch eine und noch eine, jeweils mit leichter Verzögerung überall im Lager. Die Männer standen auf und gingen schweigend zur Tür.

»Es ist soweit, Trinle«, rief Choje mit neuer Stärke, und die Gestalt unter der Decke bewegte sich. Shan ließ Choje nicht aus den Augen und spürte, wie Trinle sich mühsam erhob. Schaudernd begriff er, daß Trinle im Stall gewesen sein mußte. Aus dem Augenwinkel sah er, daß die gebeugte Gestalt sich die Decke um das provisorische Gewand und wie eine Kapuze um den Kopf schlang und zur Tür schlurfte.

Nur Shan und Choje blieben in der Hütte zurück. Schweigend saßen sie inmitten der gleißenden Lichtstrahlen, die zwischen den losen Brettern der Wände und des Daches hindurchfielen.

»Was ist mit jenem Mann geschehen, der nicht mehr an Tamdin glauben wollte?«

»Eines Tages ist ein Teil des Berges über ihm zusammengestürzt. Alle wurden getötet. Der Mann, seine Kinder, seine Frau, seine Schafe. Und schlimmer noch.«

»Schlimmer?«

»Es war merkwürdig. Danach konnte sich niemand mehr an den Namen des Mannes erinnern.«

Plötzlich erklang von draußen ein sonderbar anschwellender Laut - kein Ruf, sondern ein schnell anwachsendes Gemurmel, das sich durch das ganze Lager zog. Shan half Choje auf die Beine.

Sie fanden die Häftlinge auf der kleinen Freifläche hinter der Hütte, genaugenommen eher am Rand derselben, wie sie in Zweier- und Dreierreihen um einen sechs Meter durchmessenden Fleck standen.

»Er ist verschwunden!« rief einer der Mönche, als sie näher kamen. »Der Zauber...«, fing er an, schien dann aber nicht in der Lage zu sein, den Satz zu vollenden.

»Wie ein Pfeil! Ich habe es gesehen. Wie ein huschender Schatten!« rief jemand.

Die Reihen teilten sich, um Choje und Shan durchzulassen.

»Trinle!« keuchte einer der jungen Mönche. »Er hat es getan!«

Auf dem freien Fleck befand sich nichts außer Trinles Schuhen, die direkt nebeneinanderstanden, als habe er sie gerade erst abgestreift.

Keiner wagte zu atmen. Shan starrte verblüfft auf die Schuhe. Im ersten Moment wirkte das alles wie ein seltsamer, schlechter Witz. Als ihm klar wurde, was geschehen war, schaute er sich erschrocken um. Trinle war weg. Trinle war entkommen. Nach all den Jahren der Übung hatte er sich schließlich fortgezaubert.

Die Mönche musterten die Schuhe voller Ehrfurcht. Einige fielen auf die Knie und sprachen Dankgebete.

Doch ihnen blieb kaum noch Zeit dafür. Von irgendwoher ertönte wieder eine Pfeife und signalisierte das Ende des Hofgangs. In einer der hinteren Reihen stimmte ein Mann mit tiefer Baritonstimme ein Mantra an. Om mani padme hum. Er fuhr etwa eine halbe Minute lang allein damit fort, dann schloß sich ihm ein zweiter Mönch an, gefolgt von noch einem und noch einem, bis kurz darauf die gesamte Gruppe einfiel und die wütenden Pfeifen übertönte.

Die Häftlinge bewegten sich langsam auf den zentralen Antreteplatz zu und feierten mit ihrem Mantra das Wunder. Shan schloß sich ihnen an und stimmte in die Litanei ein. Plötzlich packte eine Hand ihn am Ellbogen und zog ihn zur Seite. Sergeant Feng.

Sie sahen dabei zu, wie die Gefangenen sich in einem großen Viereck auf dem Boden niederließen und weiterhin laut Buddha priesen.

Die Kriecher waren sofort zur Stelle. Shan konnte sehen, daß die Soldaten etwas riefen, doch ihre Stimmen gingen in dem widerhallenden Mantra unter. Shan wollte sich losreißen, Feng aber hielt ihn mit eisernem Griff zurück. Die Schlagstöcke wurden gezückt, und dann fingen die Kriecher an, langsam und methodisch auf die Schultern und Rücken der Sträflinge einzuprügeln. Immer wieder hoben und senkten die Knüppel sich, als wären es Sicheln, die Weizen schnitten.

Die Schläge zeigten keinerlei Auswirkungen.

Ein Offizier der Öffentlichen Sicherheit erschien. Sein Gesicht war eine wutverzerrte Fratze. Er brüllte in ein Megaphon, wurde jedoch ignoriert. Dann riß er einem seiner Männer den Schlagstock aus der Hand und hieb dem nächstbesten Mönch damit so hart auf den Kopf, daß der Knüppel zerbrach. Der Mann sackte bewußtlos zusammen, doch die Litanei dauerte an.

Der Offizier ließ den geborstenen Schlagstock fallen und schritt die Reihen ab. Die ganze Szene entwickelte sich wie in Zeitlupe.

»Nein!« rief Shan und wand sich vergeblich in Fengs Umklammerung. »Rinpoche!«

Der Offizier umrundete das gesamte Viereck und befahl dann zwei Kriechern, einen der Mönche in die Mitte zu zerren. Es war einer der jüngeren Männer aus einer anderen Hütte. Der Mönch hatte sich den Kopf kahlgeschoren und trug ein rotes Band um den Arm. Er betete weiter, blieb auf den Knien und schien die Kriecher gar nicht zu bemerken. Der Offizier stellte sich hinter ihn, zog die Pistole und schoß ihm eine Kugel durch den Kopf.

Kapitel 15

Während der Fahrt vom Lager zur Drachenklaue hielt Sergeant Feng mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und schaute die ganze Zeit mit leerem, bekümmertem Blick nach vorn. Auch als sie in die Abzweigung oberhalb der alten Hängebrücke einbogen, schwieg er. Diesmal gab es keine Auseinandersetzung, und Feng versuchte auch nicht, Shan und Yeshe zu folgen, als die beiden den Abgrund überquerten. Jeder von ihnen trug einen kleinen Beutel, in dem sich Vorräte für einen Tag befanden.

Die Luft war ungewöhnlich ruhig, ohne den Wind, der fast immer bei Sonnenaufgang aufkam. Shan suchte den Hang vor ihnen mit dem Fernglas ab. Er war sich immer noch nicht sicher, wonach er Ausschau halten oder wohin er gehen sollte, nur daß der Berg nach wie vor ein entscheidendes Geheimnis barg. Von den Schafen, die ihn vielleicht zu dem rätselhaften jungen Hirten hätten führen können, war nichts zu sehen. Vielleicht mußte er zu dem Vorsprung mit den Kreidesymbolen zurückkehren. Dann erspähte er am südlichen Ende der Kammlinie einen roten Fleck inmitten der frühmorgendlichen Schatten. Sobald er den Pilger vor der Linse hatte, konnte er erkennen, daß der Mann auf dem Pfad sich mit beachtlicher Geschwindigkeit vorwärts bewegte. Er vollführte das kjangchag, das fortwährende Aufstehen, Stehen, Knien und Niederwerfen, das die demütige Untertänigkeit des Pilgers bezeugen sollte, mit einer Leichtigkeit, als würde er Freiübungen verrichten.

»Ich weiß immer noch nicht, wonach wir eigentlich suchen«, sagte Yeshe neben ihm.

»Ich auch nicht. Nach etwas Außergewöhnlichem. Vielleicht nach dem Pilger.«

Yeshe zuckte die Achseln. »Jedesmal, wenn wir hier sind, sehen wir einen Pilger. In Tibet ist das so normal wie der Regen.«

»Und stellt daher eine perfekte Tarnung dar.« Shan begriff plötzlich, was er übersehen hatte. »Gehen wir«, rief er. Nach wie vor war er zu keiner sicheren Erkenntnis gelangt, aber er wollte wissen, wohin der Pilger unterwegs war.

In schnellem Tempo folgten sie dem Verlauf der Gratlinie und ließen den Pilger nicht aus den Augen. Nach einer Stunde hatten sie ihn beinahe eingeholt und legten eine kurze Rast ein, während sie der Gestalt dabei zusahen, wie sie den Abstieg in das nächste Tal begann.

Das rote Gewand tauchte am Fuß des Kamms auf und verschwand hinter einer langen Felsformation. Shan und Yeshe teilten sich eine Flasche Wasser und warteten darauf, daß der Pilger auf der anderen Seite der Felsen wieder zum Vorschein kommen würde.

»Meine Mutter hat auch eine Pilgerfahrt unternommen«, sagte Yeshe. »Nach dem Tod meiner Schwester. Ich war zu der Zeit bereits im Kloster. Sie ist zum Berg Kailas aufgebrochen. Zum heiligen Berg. Sie hatte keinen guten Zeitpunkt gewählt. In den Bergen gab es späte Schneestürme und außerdem Truppenbewegungen wegen des Aufstands.«

»Solche Widrigkeiten machen die Leistung noch ehrenvoller.«

»Wir haben sie nie wiedergesehen. Jemand sagte, sie wäre eine Nonne geworden, andere behaupteten, sie hätte versucht, die Grenze zu überschreiten. Ich glaube, es war vermutlich sehr viel unkomplizierter. Sie ist einfach gestorben.«