Shan wußte nicht, was er sagen sollte. Er reichte Yeshe die Flasche und nahm das Fernglas. »Der Pilger ist nicht wieder aufgetaucht«, stellte er fest. Feng hatte ihm für diesen Tag seine Armbanduhr geliehen. Shan starrte verwirrt auf das Zifferblatt.
»Wann ist er hinter diesen Felsen verschwunden?«
»Vor zehn, fünfzehn Minuten.«
Shan sprang auf, ließ Yeshe, der noch immer die Flasche in der ausgestreckten Hand hielt, einfach stehen und lief den Abhang hinunter.
Er stieß seitlich auf den im Verlauf vieler Jahrhunderte ausgetretenen Pilgerpfad, der sich zwischen den Felsblöcken hindurchschlängelte und zu den wogenden Heideflächen des Hochtals führte. Als Yeshe ihn einholte, hatte Shan bereits hinter den Felsen nachgesehen und den Weg auf der Suche nach einem zweiten Pfad oder einer Abkürzung zurückverfolgt. Vergebens.
Einige Minuten später rief Yeshe aufgeregt und wies auf ein kleines Loch, einen niedrigen, knapp zwei Meter langen Tunnel, der von einer Platte gebildet wurde, die zerbrochen und zwischen zwei steile Felswände gestürzt war. Die Öffnung war kaum breit genug, um hineinzukriechen. Doch als Shan eintraf und hineinblickte, war Yeshe verschwunden.
Das Loch, so stellte er fest, endete nicht nach zwei Metern, sondern bog im rechten Winkel nach links ab. Shan quetschte sich hinein und folgte Yeshes undeutlicher Gestalt etwa fünfzehn Meter weit, bis die Decke des Tunnels zunächst anstieg und dann ganz verschwand. Sie befanden sich in einem schmalen, gewundenen Durchgang zwischen den Felswänden, dem sie in eine kleine Schlucht folgten.
»Wir sollten nicht hier sein«, flüsterte Yeshe nervös. »Es ist ein heiliger Ort. Er wird beschützt...«
Seine Worte verklangen, und seine Stimme verstummte angesichts des beeindruckenden Anblicks, der sich ihm bot. Vor ihnen, nur einen Steinwurf weit entfernt, erhob sich eine steile, hundertfünfzig Meter hohe Felswand. Diamanthelle Sonnenstrahlen schnitten durch die Schatten der Schlucht und verstärkten das Gefühl der Erhabenheit. In etwa dreißig Metern Höhe waren fünf große rechteckige Öffnungen als Fenster in den Fels gemeißelt. Darüber befanden sich drei kleinere, offenbar ebenfalls künstlich geschaffene Löcher, gefolgt von einer letzten, noch kleineren Öffnung fast neunzig Meter über ihnen. Aus den fünf Fenstern ragten Stangen, an denen leuchtendbunte Pferdefahnen hingen, riesige Banner von neun Metern Länge, die mit heiligen Symbolen geschmückt waren und im Wind flatterten.
Die Drachenklauen waren im Begriff, ihr Geheimnis preiszugeben, erkannte Shan.
»Verstecken Sie sich!« warnte Yeshe und trat hinter einen Felsen. »Da ist jemand am Wasser.«
Shan schaute zum Ende der Schlucht, wo sich in einem schimmernden Wasserbecken die Abbilder der Flaggen spiegelten. Unter einem einzelnen Weidenbaum am hinteren Rand des Teichs saß eine Gestalt und wandte ihnen den Rücken zu.
»Wir sollten diesen Ort nicht finden«, warnte Yeshe erneut. »Wir sollten gehen. Falls wir vorher um Erlaubnis bitten...«
»Wir haben keine Zeit für eine Erlaubnis«, sagte Shan und ging auf den Teich zu. Zwischen den Felsen wuchsen kleine Schwertlilien, und am Rand des Wassers saß ein Schwarm Vögel.
»Nicht alle sind froh, daß du gekommen bist«, sagte die Gestalt, als Shan sich noch drei Meter hinter ihr befand. Sie drehte sich nicht um. Die Stimme, die aufgrund des Wassers und der Felsen merkwürdig widerhallte, war die eines Kindes. »Aber ich habe gehofft, daß wir uns wiedertreffen würden. Man erzählt sich Dinge von dir, die ich nicht verstehe. Jetzt können wir noch einmal miteinander reden.«
»Deine Schafe haben dich schon wieder verlassen, wie ich sehe«, erwiderte Shan.
Der Junge drehte sich langsam um. Er lächelte. »Willkommen in Yerpa.«
Shan deutete auf Yeshe, der hinter ihm stand. »Das ist...«
»Ja. Man hat es mir berichtet. Yeshe Retang. Ihr könnt mich Tsomo nennen.«
Er erhob sich und führte sie schweigend zurück auf den Durchgang zu, den sie eben erst verlassen hatten, und wandte sich dann in Richtung der Felswand, wo er eine schmale Spalte betrat, die im Schatten verborgen lag. Nach zwanzig Schritten in völliger Dunkelheit erreichten sie eine trübe Butterlampe am Fuß einer gewundenen Treppe, die direkt aus dem Fels geschlagen war.
Sie folgten den Stufen, bis Shan die Füße weh taten; nach einer kurzen Rast gingen sie weiter. Auf ihrem Weg kamen sie an mehreren niedrigen Türöffnungen vorbei, die in dunkle Kammern führten. Aus einer drang das Geräusch einer betenden Stimme, aus einer anderen ein übler Gestank und ein tiefes Stöhnen. Schließlich erreichten sie einen großen Raum, der durch ein einzelnes hohes Fenster und ein Dutzend Kerzen erhellt wurde.
Die Wände waren von Gemälden bedeckt, Bildern der Schutzgötter sowie den vergangenen und zukünftigen Buddhas. Shan hatte mit einer Kapelle gerechnet, doch diese Kammer war weitaus kleiner, und er begann zu begreifen, daß er sich nicht in einem Kloster befand, sondern an einer anderen Art von heiligem Ort, die ihm nicht vertraut war. Ein einzelner Mann im Gewand eines Mönches saß am Boden und klopfte gegen eine spitz zulaufende Metallröhre, aus der zinnoberroter Sand rieselte. Er befand sich am Rand eines knapp zwei Meter durchmessenden Kreises, dessen größter Teil mit komplizierten Mustern und geometrischen Figuren gefüllt war, die aus verschiedenfarbigem Sand bestanden. In dem unfertigen Bereich, vor dem er saß, war das anzufertigende Muster bereits mit Kreide vorgezeichnet.
»Dies ist das Kalachakra-Mandala«, erklärte Tsomo. »Ein sehr altes Motiv.«
Das Sandbild bestand aus konzentrischen Ringen, die zu viereckigen Linien führten, welche die Wände von drei ineinander verschachtelten Palästen darstellten. Bewohnt wurden die Paläste von zahllosen Gottheiten, die bis in die kleinsten Einzelheiten abgebildet waren.
»Es handelt von der Entwicklung der Zeit«, fuhr Tsomo fort, »der Entfaltung der Ze it, denn Buddha kann es nicht ertragen, auch nur eine einzige Seele im Stich zu lassen. Daher verläuft die Zeit in einem immerwährenden Kreis, bis alle Geschöpfe erleuchtet sind.«
Shan kniete ehrfürchtig am Rand des Bildes nieder. Der Mönch neigte den Kopf in seine Richtung und fuhr mit der Arbeit fort, indem er das Mandala Stückchen für Stückchen vollendete.
»Siebenhundertzweiundzwanzig Gottheiten«, flüsterte Yeshe hinter ihm. »Früher hat man das in Lhasa jedes Jahr gemacht, für den Dalai Lama.«
»Richtig«, sagte Tsomo begeistert und zog Yeshe näher heran, damit er das Bild genauer betrachten konnte. »Dubhe hat bei einem alten Lama aus dem Potala-Palast gelernt. Wenn das Bild vollendet ist, werden alle traditionellen Gottheiten darauf zu sehen sein, jede anders, jede in der vorgeschriebenen Haltung. Dubhe arbeitet inzwischen seit drei Jahren daran. In vier oder fünf Monaten wird er fertig sein. Wir werden das Bild weihen und seine Schönheit feiern. Dann wird Dubhe es zerstören und mit frischem Sand von vorn beginnen.« Tsomo wies auf die halbhohen Regale aus roh behauenem Holz, die an den Wänden standen. Auf ihnen befanden sich unzählige kleine Tongefäße. »Ein Teil des Sandes von jedem hier jemals angefertigten Mandala wurde aufgehoben. Er ist sehr heilig und mächtig.«
Sie folgten einem Gang in einen größeren Raum mit vier Fenstern, den anderen rechteckigen Öffnungen, die sie von unten gesehen hatten. Am Rand der Kammer standen breite Tische, deren schräge Platten aus grobem Holz gefertigt waren. Die meisten Plätze blieben frei. Lediglich drei Mönche und eine Nonne waren an der Arbeit, ein jeder umgeben von Butterlampen und Behältern mit Pinseln und Tintensteinen.
Shan bemerkte die Hochachtung, mit der Tsomo von den Anwesenden gemustert wurde, aber auch die nervösen Blicke, die man ihm selbst und Yeshe zuwarf. Zwar hatte man den Mönchen gesagt, daß Fremde kommen würden, doch offenbar waren sie unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Sie entschieden sich dafür, zu schweigen und es Tsomo zu überlassen, die prächtigen Manuskripte zu erläutern, mit deren Anfertigung sie beschäftigt waren. Ihre Vorlagen waren alte Bambusplatten und abgenutzte Gebetbücher, deren Inhalte sie auf lange schmale Seiten übertrugen, die man später nicht binden, sondern auf traditionelle Weise mit seidenen Umschlägen versehen würde. Über den Tischen lagen auf Regalen zahlreiche von ebendiesen Seidenpaketen. Man nannte siepotis, hatte Trinle ihm einst erklärt, Bücher, die in Gewänder gewickelt waren. Einer der Mönche arbeitete nicht mit Pinseln, sondern mit langen Beiteln und Meißeln. Er verzierte die langen Bretter, zwischen denen die potis verschnürt wurden. Shan blieb an dem Tisch stehen. Er war überrascht. Nicht wegen der komplizierten Details der Vögel und Blumen, die der Mönch schnitzte, sondern weil der Mann eine solche Schönheit erschaffen konnte, obwohl ihm ein Daumen fehlte.