Die Nonne stand auf und kam auf sie zu. »Die Geschichte eines jeden Klosters in Tibet«, sagte sie und deutete auf die hintere Wand. Ihre Stimme war rauh, als habe sie lange nicht gesprochen. »Da liegen Briefe des Großen Fünften an die kenpos, in denen Gelder für neue Kapellen angekündigt werden, und dort sind die originalen Baupläne für die Seilbrücke über den Drachenschlund.«
Tsomo zog Shan am Arm mit sich, während die Nonne den ehrfürchtig ergriffenen Yeshe an den Manuskripten entlang und weg von der Tür führte. Sie stiegen eine weitere Treppe empor und gelangten in eine Kammer, die tief im Innern des Berges lag. Sie wirkte wie ein Klassenzimmer. Im gesamten Raum gib es nur zwei Lampen, und die standen beide auf einem kleinen Altar. Am anderen Ende befanden sich Regale mit Töpferwaren, die zumeist zerbrochen waren; darüber hatte man Symbole an die Wand gemalt. Auf dem Boden lagen ein Teppich und einige Sitzkissen, auf denen zwei Mönche Platz genommen hatten.
Einer der Mönche wandte ihnen den Rücken zu und schaute zum Altar. Der andere, ein älterer, einfach gekleideter Mann mit verschmitzt funkelnden Augen, begrüßte sie mit einer leichten Verneigung. »Du bist überaus hartnäckig, Xiao Shan«, sagte der Mönch auf Mandarin. Hinter ihnen erklangen die hastigen Schritte nackter Füße. Drei Jungen in Schülergewändern kamen herein und setzten sich hinter den Mönch, der gesprochen hatte. Sie musterten Shan mit großen Augen und verblüfften Mienen.
»Weißt du, wir verdanken dir ein ziemliches Dilemma«, fuhr der alte Lama fort.
»Ich untersuche lediglich einen Mordfall.« Shans Blick richtete sich abermals auf die Symbole über den Töpferwaren. Erschrocken wurde ihm klar, wo er sie schon einmal gesehen hatte: als Kreidezeichen auf dem Vorsprung oberhalb der Drachenschlundbrücke.
»Ja, das wissen wir. Der Ankläger wurde nicht weit von hier ermordet. Der Einsiedler Sungpo sitzt in Haft. Die 404te befindet sich im Streik. Siebzehn Priester sind gefoltert worden. Einer der Häftlinge wurde hingerichtet. Das Büro für Öffentliche Sicherheit ist bereit, weitere Greueltaten zu begehen.«
»Sie wissen mehr über die 404te als ich«, sagte Shan verwundert. »Sind Sie der Abt dieser Einrichtung?«
Das Lächeln des Mannes schien sein gesamtes Gesicht einzunehmen. »Es gibt hier keinen Abt. Mein Name ist Gendun. Ich bin bloß ein einfacher Mönch.« Während er sprach, ließ er einen Rosenkranz durch die Finger gleiten, dessen Perlen aus einem dunklen, rötlichen Holz gefertigt waren. »Wird man dich dorthin zurückschicken, wenn du fertig bist?«
Shan schwieg einen Moment und dachte über den Mann nach, nicht über die Frage. »Es sei denn, man entscheidet sich für einen schlimmeren Ort.«
Ein weiterer Junge erschien, brachte eine Kanne Buttertee und füllte schweigend einige Schalen. Von irgendwoher erklangen einige tsingha, die winzigen, glockenähnlichen Zimbeln der buddhistischen Riten.
»Sie haben gesagt, ich stelle für Sie ein Dilemma dar«, sagte Shan und nahm eine der Schalen entgegen.
»Yerpa ist der geheime Raum eines nie gesehenen Hauses, das in einem Land der Schatten errichtet wurde. Das hat einer unserer Gelehrten vor dreihundert Jahren in einem Buch geschrieben.« Gendun hielt inne und lächelte Shan an. »Wir schreiben einander manchmal Bücher, da niemand sonst sie sehen kann. Er hat gesagt, wir würden uns hier zwischen den Welten befinden. Eine Zwischenstation, weder auf der Erde noch im Jenseits gelegen. Er hat es als Berg der Träume bezeichnet.«
»Das Auge des Raben«, sagte der andere Priester, der ihnen nach wie vor den Rücken zuwandte. Seine Stimme klang irgendwie vertraut.
Tsomo lächelte. »In der Bibliothek gibt es ein Gedicht über den tiefsten Winter. Zwischen hundert schneebedeckten Bergen, heißt es dort, bewegt sich nur das Auge des Raben.«
Shan bemerkte, daß Gendun auf Fengs Armbanduhr starrte. Shan streckte den Arm aus.
»Wie nennst du das?« fragte der Mönch.
»Eine Armbanduhr.« Shan nahm sie ab und reichte sie ihm.
Gendun betrachtete sie verwundert und hielt sie sich ans Ohr. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ach, ihr Chinesen«, sagte er und gab die Uhr zurück.
Tsomo wich mit einer ehrerbietigen kleinen Verbeugung von seiner Seite und kniete sich neben den zweiten Mönch, der noch immer zu dem Altar blickte.
»Auch bevor die Armeen aus dem Norden kamen, war dieser Ort nur den wenigen bekannt, die davon wissen mußten«, fuhr der alte Mönch fort. »Dem Dalai Lama. Dem Pantschen Lama. Dem Regenten. Man sagt, es sei eine der Höhlen des großen Guru Rinpoche. Es ist eine eigene Welt. Normalerweise geht niemand, der herkommt, je wieder von hier weg. Schon vor fünfhundert Jahren war es hier genauso wie jetzt. Und auch in weiteren fünfhundert Jahren wird es noch immer so sein«, sagte er im Brustton der Überzeugung.
»Es tut mir leid. Aber falls wir nicht zurückkehren, werden Soldaten kommen. Wir haben nichts Böses im Sinn.«
»Der Tunnel kann vor neugierigen Augen verschlossen werden. Das ist früher schon vorgekommen. Für mehrere Jahre, wenn es sein mußte.«
»Er könnte uns das Tao lehren«, warf Tsomo ein. »Wir könnten die Bücher des Laotse besser verstehen.«
»Ja, Rinpoche. Es wäre wunderbar, einen solchen Lehrer zu haben.« Gendun wandte sich wieder an Shan. »Bist du fähig, diese Dinge zu lehren?«
Shan nahm die Frage erst dann wahr, als der Mann sie wiederholte. Der Mönch hatte den Jungen Rinpoche genannt; es war die Anrede für einen ehrwürdigen Lama, einen wiedergeborenen Lehrer. »Ein alter Abt hat einmal zu mir gesagt: >Ich kann die Bücher rezitieren. Ich kann dir die Zeremonien zeigen. Aber ob du sie lernst, liegt allein bei dir.<«
Tsomo lachte leise und triumphierend auf, erhob sich dann und goß Shan Tee nach. »Es heißt, in manchen Teilen Chinas sei es unmöglich, das Tao und Buddhas Weg voneinander zu trennen.«
»Während meiner Ze it in Peking habe ich jeden Tag einen geheimen Tempel besucht. Auf einer Seite des Altars stand eine Statue von Laotse, auf der anderen saß Buddha.«
Tsomo bekam erneut große Augen. »Vom Gipfel eines Berges aus scheint alles stets so weit entfernt zu sein. Wir müssen noch viel lernen.«
Der Moment war magisch. Niemand sprach. Der Klang der tsingha kam näher. Ein Junge erschien, vor sich die baumelnden kleinen Zimbeln. Hinter ihm folgten zwei Frauen, Nonnen, von denen eine ein Tablett mit zwei abgedeckten Schalen und die andere eine große Kanne Tee trug. Sie stellten die Gegenstände vor dem Altar ab, und der Mönch, der dort kniete und Shan noch immer den Rücken zuwandte, begann ein Ritual der Segnung.
Shan wußte, daß er die Stimme zuvor schon gehört hatte, aber er kannte nur sehr wenige Mönche außerhalb der 404ten. Hatte er diesen Mann in Saskya gesehen? Vielleicht in Khartok? Angestrengt musterte er den Fremden im trüben Licht, während die Nonnen und Mönche abwechselnd zeremonielle Worte sprachen, die Shan nicht verstand. Als das Ritual beendet war, stand der Mönch vor dem Altar auf und wandte sich dann zu Shan um.