»Bist du bereit?« fragte er. Es war Trinle.
Schweigend sahen sie sich an. Shan fühlte sich seltsam ergriffen. Aus irgendeinem Grund war es ihm nicht möglich, Trinle danach zu fragen, wie er sich aus dem Lager gezaubert oder warum er sich umständlich als Pilger verkleidet hatte, um nach Yerpa zu gelangen. Statt dessen folgte er ihnen, Trinle, Tsomo und den beiden Nonnen, als diese eine weitere steile Treppe hinaufstiegen, eine schmale, gewundene Passage, die, wie auch die anderen, nach Jahrhunderten der Benutzung tief ausgetreten war. Nach einer Minute anstrengenden Aufstiegs erreichten sie einen Treppenabsatz. Die Stufen führten noch weiter, doch nach links verlief ein schwach erhellter Gang tiefer in den Berg hinein. Zu beiden Seiten konnte man mehrere schwere Holztüren erkennen, bevor eine Biegung des Korridors die weitere Sicht versperrte.
Die Gruppe blieb auf der Treppe und stieg schweigend mindestens fünf weitere Minuten lang nach oben. Zweimal mußte Shan anhalten und sich gegen die Wand lehnen, nicht aus Erschöpfung, sondern wegen des merkwürdigen, überwältigenden Gefühls, etwas zu durchqueren, als würde er sich gegen eine Barriere stemmen. Er schien etwas zu hören, aber da waren keine Geräusche. Er schien huschende Schatten auf der Wand zu sehen, aber es gab nur eine einzige, nicht flackernde Lampe, die ein großes Stück vor ihm getragen wurde. Es war, als würde jeder einzelne Schritt sie nicht etwa in einen anderen Teil des Berges bringen, sondern in eine andere Welt. Immer wenn er anhielt, wartete Trinle mit gelassenem Lächeln auf ihn.
Sie erreichten einen Absatz mit einer dicken hölzernen Tür, deren Oberfläche kunstvoll mit den geschnitzten Gesichtern der Schutzdämonen verziert war und vor der ein schwerer schmiedeeiserner Riegel lag. Tsomo wartete, bis sie alle sich auf dem Absatz eingefunden hatten, um eine geschlossene Prozession zu bilden. Dann öffnete er die Tür und ging leise betend in die Kammer voran.
Es handelte sich um einen kargen, quadratischen Raum von etwa neun Metern Seitenlänge, in dem sich niemand sonst befand. Ein einfacher Tisch, zwei Stühle, eine große eiserne Kohlenpfanne und einige Regale mit Manuskripten stellten die einzigen Einrichtungsgegenstände dar. Ein detailliertes Gemälde auf einer der Wände zeigte das Leben Buddhas. Die gegenüberliegende Wand bestand aus Zedernholz; in ihrer Mitte war eine Tafel von ungefähr der Größe der Tür zu sehen, wenngleich man weder Angeln noch Riegel erkennen konnte. Man hatte die Tafel mit handgefertigten Schrauben befestigt, deren Muttern fast so groß wie Shans Faust waren. Daneben lag eines der verzierten Manuskripte auf dem Boden, direkt unterhalb eines schwarzen rechteckigen Faches von etwa fünfundzwanzig Zentimetern Höhe und einem halben Meter Breite.
Schweigend entzündete Trinle weitere Butterlampen und wandte sich zu Shan um. »Kennst du den Begriff gomchen?« fragte er so beiläufig, als wären sie gemeinsam in ihrer Hütte bei der 404ten. »Er wird heutzutage selten gebraucht.«
Shan schüttelte den Kopf.
»Ein Einsiedler der Einsiedler. Ein lebender Buddha in lebenslanger Klausur«, sagte Trinle.
»Der Zweite war es, der beschloß, man müsse den gomchen schützen«, führte Tsomo die Erklärung fort. »Ein heiliger Vertrauensposten. Ein kleiner, abgelegener heiliger Ort mußte ausgewählt werden, um seine Zuflucht so tief zu verbergen, daß das Geheimnis niemals gelüftet werden würde.«
»Der Zweite?« fragte Shan verwirrt.
»Der Zweite Dalai Lama.«
»Aber das war vor fast fünfhundert Jahren.«
»Ja. Es hat bislang vierzehn Dalai Lamas gegeben, doch nur neun unserer gomchen.« Trinles Stimme, kaum lauter als ein Flüstern, klang ungewöhnlich stolz.
Tsomo ging zu dem Manuskript und schlug eine Seite auf, die mit einem Seidenstreifen markiert war. Als er las, kehrte das heitere Lächeln auf sein Gesicht zurück.
Die Nonnen nahmen die Abdeckung von dem Tablett und stellten Schalen mit tsampa und Tee neben das Manuskript. Das war gar kein schwarzes Fach dort in der Wand, erkannte Shan, sondern ein Loch, das zu einem dahinter befindlichen Raum führte. Er erinnerte sich an das kleine einzelne Fenster ganz oben in der Felswand.
»Ihr sorgt hier für einen Einsiedler«, flüsterte er.
Trinle legte einen Finger an die Lippen. »Keinen Einsiedler. Den gomchen«, sagte er und sah schweigend dabei zu, wie Tsomo und die Nonnen das Essen anrichteten. Als sie damit fertig waren, kniete Trinle sich neben ihnen auf den Boden und warf sich betend vor der Zelle in den Staub.
Niemand sprach, bis sie die lange Treppe wieder hinabgestiegen waren und erneut die kleine Kapelle betraten, in der Shan auf Trinle gestoßen war.
»Es ist schwer zu erklären«, sagte Trinle. »Der Große Fünfte sagte, der gomchen sei wie ein einzelner strahlender Diamant, der in einem riesigen Berg verborgen liegt. Als ich jung war, sagte unser Abt, der gomchen sei all das, was in uns zu sein versuche, aber ohne die Bürde des Wollens.«
»Du hast gesagt, es gebe einen heiligen Vertrauensposten, ein Kloster, das den gomchen beschützt.«
»Es ist uns stets eine große Ehre gewesen.«
Shan blickte verwirrt auf. »Aber dieser Ort hier ist nicht gerade ein gompa.«
»Nein. Nicht Yerpa. Nambe gompa.«
Shan starrte ihn an. »Aber Nambe gompa gibt es nicht mehr.« Choje war der Abt von Nambe gompa gewesen. »Es wurde von den Flugzeugen der Armee vernichtet.«
»Nun«, sagte Trinle mit seinem heiteren Lächeln, »die steinernen Wände wurden tatsächlich zerstört. Aber Nambe ist mehr als diese alten Mauern. Es gibt uns immer noch, und nach wie vor haben wir Yerpa gegenüber unsere heilige Pflicht zu erfüllen.«
Shan war nach dieser Eröffnung Trinles wie betäubt. Er dachte an Choje, der bei der 404ten ebenfalls seine heilige Pflicht tat, um Yerpa zu schützen. Dann bemerkte er, daß Tsomo neben ihm saß. »Er schreibt ganz wunderbar, wenn er nicht meditiert«, sagte Tsomo. »Über die Entwicklung der Seele.«
Shan erinnerte sich an das Manuskript in dem Vorraum. Der gomchen kommunizierte mit ihnen, indem er religiöse Traktate in das Manuskript schrieb. »Wie lange ist es her?« fragte Shan, noch immer von tiefem Respekt erfüllt. »Seit man die Schrauben festgezogen hat.«
Die Antwort schien Trinle schwerzufallen. »Zeit ist kein Maßstab für ihn«, sagte er. »Letztes Jahr hat er ein Gespräch mit dem Zweiten Dalai Lama aufgeschrieben. Als wäre er dabeigewesen, als hätte es sich gerade erst zugetragen.«
»Aber in Jahren gemessen«, ließ Shan nicht locker. »Wann hat er...«
»Vor einundsechzig Jahren«, sagte Tsomo. Seine Augen strahlten vor Freude.
»Die Welt sah damals noch ganz anders aus«, stellte Shan ehrfürchtig fest.
»Sie existiert immer noch. Für ihn. Er weiß nichts davon. Das ist eine der Regeln. Die Außenwelt ist irrelevant. Er denkt allein an die Buddhaschaft.«
»Nachts kann er die Sterne beobachten«, sagte Tsomo in eigenartig sehnsüchtigem Tonfall.
»Du meinst, er weiß nichts von..« Shan rang um die richtigen Worte.
»Den Sorgen der diesseitigen Welt?« bot Trinle an. »Nein. Sie kommen und gehen. Es hat schon immer Leid gegeben. Es hat schon immer Invasoren gegeben. Die Mongolen. Die Chinesen, mehrere Male. Sogar die Briten. Invasionen gehen vorbei. Sie haben keinen Einfluß auf unser Glück.«
»Glück?« fragte Shan mit erstickter Stimme.
Trinle schien über diese Frage aufrichtig überrascht zu sein. »Das Glück, in der Lage gewesen zu sein, die gegenwärtige Inkarnation in diesem heiligen Land zu verbringen.« Er musterte Shan. »Das Leid unseres Volkes ist für die Arbeit des gomchen nicht von Bedeutung«, sagte Trinle und klang dabei auf einmal besorgt. Es war, als sei er zu der Überzeugung gelangt, sein Besucher müsse beruhigt werden. »Man darf ihn nicht mit der Welt belasten. Deshalb hat es auch so viele Bedenken gegeben, nachdem du Tsomo zum erstenmal getroffen hattest.«