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»Nachdem ich Tsomo getroffen hatte?«

»Es gab Beratungen. Wir fragten uns, ob er vergiftet worden war.«

»Falls es drinnen unwichtig ist, muß es auch draußen unwichtig bleiben, habe ich gesagt«, warf Tsomo ein.

Plötzlich verstand Shan mit schmerzlicher Klarheit. »Er könnte bald sterben, der gomchen.«

»Nachts können wir ihn husten hören«, sagte Trinle bedrückt. »In seiner Waschschüssel ist manchmal Blut. Wir haben ihm zusätzliche Decken angeboten. Er benutzt sie nicht. Wir müssen bereit sein. Tsomo ist der zehnte.«

Diese Worte ließen Shan erschaudern. Sprachlos starrte er den lebensprühenden, scharfsinnigen Jugendlichen an, den man bald für immer im Fels einschließen würde. Tsomo erwiderte seinen Blick mit einem breiten Lächeln.

Sie brachten Shan zurück in die Bibliothek, wo Yeshe noch immer mit großen Augen über den Manuskripten brütete. Als Trinle und Tsomo sich zu ihm gesellten, erschien Gendun an der Tür.

»Ich glaube, daß Ankläger Jao getötet wurde, um Yerpa zu schützen«, sagte Shan auf einmal, bevor sie den Raum betraten.

»Der Ankläger hatte viele Feinde«, stellte der alte Mönch fest.

»Ich meine, daß der Mord absichtlich auf der Drachenklaue verübt wurde, um den gomchen zu schützen.«

Gendun schüttelte langsam den Kopf. »Bei uns gibt es jeden Morgen ein Gebet. Eine Segnung des Windes, damit er sanft zu den Vögeln ist. Eine Segnung unserer Schuhe, damit sie nicht auf Insekten treten.«

»Was wäre, wenn es andere Tibeter gäbe, die euch beschützen wollen und sich nicht so viele Gedanken um den Tod von Insekten machen.«

Der alte Mann wirkte sehr traurig. »Dann würde das Vertrauen, das der Zweite in uns gesetzt hat, mißbraucht werden. Wir könnten nicht akzeptieren, daß unser Schutz durch die Verletzung eines heiligen Gelübdes herbeigeführt wird.«

Shan ging im Raum umher und blieb vor den Fenstern stehen. Gendun gesellte sich kurz darauf zu ihm. Der kleine Teich wurde von der Sonne beschienen. In der Nähe des Wassers lagen auf Decken vier Gestalten im Licht. Sie meditierten nicht, sondern lagen da, als seien sie völlig erschöpft und hätten nicht einmal genug Kraft, um zu sitzen.

»Gibt es hier Krankheiten?« fragte er den Mönch.

»Das ist der Preis, den wir bezahlen. In den letzten Jahren sind neue Krankheiten aufgetaucht, die unsere Kräuter nicht heilen können. Manchmal bekommen wir pockennarbige Gesichter und Fieber. Und manchmal wechseln wir auch schon in jungen Jahren ins nächste Leben über.«

»Die Blattern«, sagte Shan bestürzt.

»Ich habe diesen Namen aus dem Tal schon gehört.« Gendun nickte. »Wir nennen es Wangenfäule.«

Mit einem Gefühl hilflosen Entsetzens schaute Shan zu den zerbrechlichen Gestalten hinunter. Was hatte Li gesagt, als er Dr. Sung verspottete? In den Bergen gibt es manchmal Krankheiten, die im Rest der Welt schon längst ausgerottet wurden. Shan hatte die plötzliche Schreckensvision, alle Mönche wären an einer Krankheit gestorben und würden den gomchen allein in seiner versiegelten Kammer zurücklassen. Er blinzelte, um die Bilder zu vertreiben, und drehte sich um. Gendun war an den Tisch neben Yeshe getreten. Niemand achtete in diesem Augenblick auf Shan. Die Mönche standen jetzt alle bei Yeshe, der sie mit einer Vielzahl aufgeregter Fragen überschüttete, während er ein weiteres altes Manuskript studierte. Shan stahl sich leise aus dem Raum.

Der Korridor war leer. Shan rannte die Treppe bis zum ersten Absatz hinauf und betrat den schwach erhellten Gang. Er nahm eine der Butterlampen aus ihrer Wandnische und öffnete die erste Tür.

Es war ein kleiner Raum, nicht viel mehr als ein Wandschrank. Die Regale hier waren mit zusammengelegten Wandteppichen gefüllt. Eine große Zederntruhe enthielt nichts außer vier Paar ausgetretener Sandalen.

Der nächste Raum war größer, aber sein einziger Inhalt bestand aus Tongefäßen voller Kräuter und Schachteln mit Schreibpinseln.

Das dritte Zimmer enthielt große Keramiktöpfe mit Gerste. Auf einem Tisch in der Mitte lag ein schmiedeeiserner Schraubenschlüssel von mehr als einem Meter Länge. Enttäuscht blieb Shan stehen. Hier hätten Kostüme sein sollen. Er war sich so sicher gewesen, daß sie hier sein würden. Jemand hatte das Vertrauen mißbraucht und ein Kostüm aus Yerpa benutzt, um Jao zu töten. Shan lief um die Biegung des Gangs und kam an vier weiteren Türen vorbei, bis er das Ende des Korridors erreichte, wo ein großer Wandteppich mit Szenen aus den Leben Buddhas hing. Er schob ihn beiseite. Dahinter war eine Tür verborgen.

Der Raum war größer als die anderen. Es roch modrig, und ein schwerer Weihrauchduft hing in der Luft. Shan hob die Lampe und seufzte zufrieden. Das flackernde Licht fiel auf Goldbrokat. Hier waren die Kostüme, insgesamt acht an der Zahl, und lagen in tiefen Regalen vor den vier Wänden. Seine Hand schloß sich um das gau an seinem Hals, und er trat vor. Die lederumwickelten Skelettarme der Kreaturen hingen aus den Ärmeln. Er ging zu der nächstbesten Figur, hielt ihr die Lampe neben den Kopf und stöhnte entsetzt auf.

Er fiel auf die Knie. Ihm wurde übel.

»Dies ist ein sehr besonderer Ort«, sagte jemand hinter ihm. Es war Tsomo.

Shan blickte langsam auf. Er ekelte sich vor sich selbst. »Ich wollte nicht...«, krächzte er. »Ich mußte es wissen. Ob es Kostüme gibt. Für Dämonentänzer.«

Tsomo nickte. In seinem Blick lag bereits wieder Versöhnung. »Das ist verständlich. Aber dies hier ist eine arme Einsiedelei. Wir feiern nicht viele Feste. Wir haben keine solchen Kostüme.«

Shan stand auf und hob den Blick. »Ich habe befürchtet, ich würde Tamdin hier finden. Ich mußte...« Er beendete den Satz nicht.

»Nicht hier. Hier...« Tsomo wies ehrfürchtig auf die stummen Gestalten in den Regalen. »Hier liegen bloß ein paar schlafende alte Männer in ihrem Berg.«

Shan wich zurück. Der Anblick der mumifizierten Einsiedler von Yerpa hatte sich für immer in sein Hirn gebrannt.

Als er die Tür schloß, lächelte Tsomo gelassen. »Manchmal besuche ich sie, um zu meditieren. Ich verspüre stets großen Frieden, wenn ich bei ihnen bin.«

Als sie an der Tür des Mandala-Raums wieder zu Yeshe stießen, überreichte Gendun den beiden Besuchern jeweils eines der kleinen Tongefäße aus den Regalen.

»Vor hundert Jahren hat es hier ein sehr prachtvolles Mandala gegeben, angefertigt von einem Mönch, der wenig später unser gomchen werden sollte. Das hier sind die letzten Reste des Sandes.«

Yeshe keuchte auf und schob das Gefäß von sich. »Ich kann ein solches Geschenk nicht annehmen.«

Gendun lächelte. »Das ist kein Geschenk. Es ist eine Vollmacht.«

Shan sah, daß Yeshe verstand. Diese Gabe wurde ihnen zur treuen Bewahrung überreicht. Der alte Mönch legte Yeshe die Hand auf den Hinterkopf und murmelte ein kurzes Abschiedsgebet.

Sie sprachen nicht mehr, bis sie das Felsgewirr erreichten, das aus Yerpa herausführte. Yeshe war bereits zwischen den Steinen verschwunden, als Tsomo eine Hand auf Shans Schulter legte.

»Warum tut ihr das?« fragte Shan. »Warum bringt ihr euer Geheimnis durch mich in Gefahr?«

»Es würde mich traurig machen, falls du es als eine Last empfändest.«

»Keine Last. Eine Ehre. Eine Verantwortung.«

»Trinle und Choje haben beschlossen, es sei nicht länger rechtschaffen, dich nicht davon wissen zu lassen.«