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»Aber wird es mir dabei helfen, den Mörder zu finden?« fragte Shan beinahe flüsternd und umklammerte das Sandgefäß in seiner Tasche. Sie hatten ihm eine Vollmacht verliehen. Konnten die Geheimnisse von Yerpa ihn dazu befähigen, Sungpo zu retten?

Tsomo zuckte die Achseln. »Vielleicht wird es lediglich alles einfacher machen, falls du ihn nicht findest. Du mußt dich daran erinnern, was du an jenem ersten Tag zu mir gesagt hast. Von Laotse. Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise.« Der Junge deutete ein Lächeln an, das beinahe schadenfroh wirkte.

»Da ist etwas, das mich im Hinblick auf deine Person verwirrt«, sagte Shan. »Der gomchen weiß nichts von der Welt dort draußen. Doch du bist der zukünftige gomchen. Du weißt davon. Von den Invasoren, den Morden, den Blutbädern.«

Tsomo schüttelte den Kopf. »Ich kenne diese Dinge nicht. Man hat mir beigebracht, nicht über die Berge hinauszublicken. Ich habe von solchen Möglichkeiten gehört. So wie unser neunter gomchen von dem Großen Krieg gehört hat, und daß der Kaiser Pu Yi in Peking entthront worden ist. Aber das sind nur Worte. Als würde man die Schilderung eines fernen Planeten hören. Wie Fabeln. Keine meiner Wirklichkeiten. Ich bin ihnen nicht begegnet.« Schweigend sah er Shan einen Moment lang an. »Ich bin dir begegnet. Du bist das größte Stück Außenwelt, das ich je erfahren habe.«

Shan wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Ich bin wohl kaum der Maßstab, nach dem man die Welt beurteilen könnte.«

»Es besteht keine Veranlassung, ein Urteil zu fällen. Ich feiere lediglich, was der große Strom des Lebens in unsere Richtung treibt. Eines Tages hat unser gomchen in sein Buch das Bild eines Buddhas mit langen flachen Flügeln gezeichnet. Das war, was er gesehen hatte, als ein Flugzeug über uns hinwegzog.«

Shan schaute zu dem hohen, winzigen Fenster empor, das im Schatten des Nachmittags kaum mehr zu erkennen war. »Ich beneide ihn«, sagte er.

»Den gomchen

Shan nickte. »Ich glaube, es ist am besten, unwissend zu bleiben«, sagte er bekümmert.

Kapitel 16

Rebecca Fowler saß an ihrem Schreibtisch, hatte den Kopf auf eine Hand gestützt und wirkte sorgenvoll.

»Sie sehen furchtbar aus«, sagte sie, als Shan hereinkam.

»Ich bin auf der Südklaue gewesen«, erwiderte er und versuchte, gegen die Erschöpfung anzukämpfen. »Eine kleine Erkundung.« Sergeant Feng rauchte mit einigen Arbeitern draußen eine Zigarette. Yeshe lag schlafend im Wagen. »Ich muß Sie etwas fragen.«

»Einfach so«, sagte sie. Die Verbitterung kam zurück. »Während Sie über die Drachenklauen geschlendert sind, ist Ihnen plötzlich etwas eingefallen.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar und blickte auf, ohne auf eine Antwort zu warten. »Ich habe seine Hand nach dort oben mitgenommen. Die Hand Ihres Dämons. Die Leute wollten, daß ich zusammen mit ihnen Mantras aufsagte. Oben auf dem Berg hat irgend etwas zu heulen angefangen.«

»Irgend etwas?«

Sie schien ihn nicht zu hören. »Die Sonne ist untergegangen«, erzählte sie mit gehetzter Miene. »Man hat Fackeln angezündet und mit dem Mantra weitergemacht. Der Mond ging auf. Das Heulen fing an. Ein Tier. Kein Tier. Ich weiß nicht.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich habe seitdem nicht viel geschlafen. Es war alles so... ich weiß nicht. So real.« Sie sah ihn entschuldigend an. »Tut mir leid. Ich kann es nicht beschreiben.«

»Letztes Jahr war ein Mann aus Shanghai in meiner Hitte«, erzählte Shan ruhig. »Anfangs hat er über die Mönche gespottet. Aber später sagte er, daß er sich nachts manchmal die Hand vor den Mund hielt, wenn er die Mantras hörte, weil er Angst hatte, seine Seele würde entweichen.«

Die Amerikanerin schenkte ihm ein schwaches, dankbares Lächeln.

»Ich muß mir einige Karten ansehen. Satellitenkarten.«

Sie zuckte zusammen. »Als die Öffentliche Sicherheit mir die Satellitenlizenz erteilt hat, mußten wir schriftlich niederlegen, wer Zugang zu den Unterlagen erhält. Es gibt nur acht befugte Personen. Die Software führt Buch über jeden Ausdruck. Der Major war ziemlich hartnäckig. Auf diese Weise kann man sichergehen, daß wir uns nichts anschauen, was nicht für unsere Augen bestimmt ist.« Sie gab sich zurückhaltend und wirkte plötzlich argwöhnisch. Shans Bitte schien sie erschreckt zu haben.

»Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«

Sie seufzte, sagte jedoch nichts.

»Ich brauche die Abschnitte, auf denen die Südklaue zu sehen ist. Zu verschiedenen Zeitpunkten, auf jeden Fall aber einschließlich des Tags von Jaos Ermordung sowie einen Monat davor.«

»Ich hätte schon vor einer Stunde bei den hinteren Teichen sein sollen.«

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

»In drei Tagen treffen die Touristen in Lhadrung ein. Mein monatlicher Bericht ist bereits seit einer Woche überfällig. Aus Kalifornien sind Faxe gekommen; man will wissen, ob wir das Problem mit der Betriebserlaubnis gelöst haben. Ich habe einen Job zu erledigen. Meine Aktionäre vertrauen darauf. Das Ministerium für Geologie vertraut darauf. Peking vertraut darauf. Die neunzig Familien, deren Existenz von dieser Mine abhängt, vertrauen darauf.« Sie stand auf und nahm den Schutzhelm, der auf ihrem Tisch lag. »Sie, Mr. Shan, sind der einzige, der keinen gesteigerten Wert darauf legt.«

»Ich dachte, das wäre eine ganz einfache Bitte.«

»Nun, das ist es nicht. Ich habe es Ihnen erklärt. Irgendwie glaube ich, daß Ihre Bitten nie >ganz einfach< sind.«

»Ich glaube, daß Jao zur Südklaue gelockt und ermordet wurde, weil jemand auf einer Ihrer Karten etwas entdeckt hat.«

»Wer hat etwas entdeckt? Jao?«

»Vielleicht. Oder der Mörder. Oder beide.«

»Lächerlich. Wir sind die einzigen, die diese Karten zu sehen bekommen.«

»Sie haben von acht Leuten gesprochen. Bei einer solch großen Anzahl lassen Geheimnisse sich womöglich nur schwer bewahren.«

»Falls Sie glauben, ich würde die halbe Öffentliche Sicherheit dazu einladen, unseren Laden hier wegen einer Verletzung der Sicherheitsauflagen auseinanderzunehmen, sind Sie verrückt.« Sie machte einen Schritt auf die Tür zu. »Ich dachte, Sie und ich, wir wären..« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Als wir die Satellitenlizenz bekommen haben, sagte Kincaid, Oberst Tan würde vielleicht versuchen, uns zu einer Preisgabe der Karten zu bewegen.«

»Weshalb sollte Oberst Tan so etwas tun?«

»Um uns bei einer Sicherheitsverletzung zu erwischen und diese dann gegen uns zu verwenden.«

»Glauben Sie, daß ich versuche, Sie zu hintergehen?«

Fowler seufzte. »Nein, Sie nicht. Aber was ist, falls auch Sie nur benutzt werden?« Sie machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu. »Besorgen Sie sich eine schriftliche Genehmigung.«

»Nein.«

Sie blickte über ihre Schulter zurück.

»Ansonsten würden Sie sich eines Sicherheitsvergehens schuldig machen«, stellte sie fest.

Langsam schüttelte sie den Kopf und ging noch ein Stück auf die Tür zu.

»Ich habe früher einen Priester gekannt. Als ich noch in Peking gelebt habe. Er hat mir oft geholfen.« Shan sprach zu ihrem Rücken. »Einmal habe ich in einem ähnlichen Dilemma gesteckt. Ich wußte nicht, ob ich nach Gerechtigkeit streben oder einfach nur das tun sollte, was die Bürokraten verlangt haben. Wissen Sie, was er gesagt hat? Er sagte, unser Leben sei das Instrument, das wir benutzen, um mit der Wahrheit zu experimentieren.«

Fowler blieb stehen und drehte sich langsam zu ihm um.

Schweigend sah sie ihn an und riß sich dann los, um sich aus einer Thermoskanne eine Tasse lauwarmen Tee einzugießen. Sie setzte sich hin und starrte die Tasse an. »Verdammt sollen Sie sein«, sagte sie. »Wer, zum Teufel, sind Sie? Jedesmal, sobald sich alles wieder ein wenig beruhigt hat, kommen Sie und...« Sie beendete den Satz nicht.