»Sind Sie sicher? Gibt es Aufzeichnungen darüber?«
»Auf den Rechnungen sind alle Anforderungen aufgeführt. Ich hänge mit der Kontrolle der Einzelheiten ungefähr drei Monate zurück.« Sie gingen in Fowlers Büro. Fünf Minuten später hatte sie die Einträge ausfindig gemacht. Zwei Wochen bevor der Ankläger ermordet worden war, hatte jemand eine dreimonatige Folge von Fotos des nördlichen Areals bestellt.
Shan legte die Rechnung in seinen Notizblock. »Können Sie diese Bilder ausdrucken, die Jao gesehen hat?«
Fowler nickte kaum merklich.
Shan ging zur Tür, um sich zu vergewissern, daß niemand lauschte. »Bringen Sie mir die Fotos morgen ins Lager Jadefrühling. Und ich brauche die Disketten, die Sie aus der Höhle mitgenommen haben.«
Fowler zögerte. »Die brauche ich ebenfalls.«
»Haben Sie schon einen genaueren Blick auf den Inhalt geworfen?«
»Natürlich. Es sind überwiegend Dateien in chinesischer Sprache, die Kincaid und ich nicht lesen können. Ein paar sind auf englisch und listen den Inhalt des Schreins auf. Man hat den Altar nach Lhasa gebracht und dort in einem neuen Restaurant aufgestellt. Das dürfte Jansen interessieren.«
»Weshalb sollte man Aufzeichnungen in englischer Sprache vornehmen?«
Fowler neigte den Kopf und sah Shan nachdenklich an. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht.«
»Weil es eine Falle ist«, schlug Shan vor.
Sie ließ sich auf ihren Stuhl am Schreibtisch sacken. »Für uns?«
»Für Sie. Für mich. Für Kincaid. Wer auch immer die Disketten mitnehmen würde. Ich glaube, daß der Major sie dort plaziert hat.«
»Ich möchte sie dem Büro der Vereinten Nationen übergeben.«
»Nein.«
»Wieso der Major?«
Shan nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz. »Als eine Art Rückversicherung.« Er beugte sich vor und barg das Gesicht für einen Moment in den Händen. Ihn überkam das unwiderstehliche Verlangen, sich einfach auf dem Boden zusammenzurollen und zu schlafen. Er blickte auf. »Falls Sie Ihren Posten aufgeben müßten, wer würde an Ihre Stelle treten?«
Fowler verzog das Gesicht. »Sie meinen die Außerkraftsetzung der Betriebserlaubnis«, sagte sie seufzend. »Es gibt eine entsprechende Vertragsklausel. Die Firma bestimmt den ersten Manager. Danach läge die Entscheidung bei der Kommission.«
»Muß es ein Amerikaner sein?«
»Nicht unbedingt. Kincaid käme in Frage. Aber es könnte genausogut Hu werden.«
»Falls Sie Ihren Job behalten möchten, Miss Fowler, dann brauche ich diese Disketten.«
Sie musterte Shan eine Weile und nahm dann mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung einige Bücher vom obersten Regalbrett. Sie griff hinter die anderen Bände, zog einen dicken Umschlag hervor und ließ ihn in Shans Hände fallen.
»Ich muß Sie um noch etwas bitten«, sagte Shan entschuldigend. »Sie müssen mich nach Lhasa bringen.«
Als sie in ihre Baracke im Lager Jadefrühling zurückkehrten, saß dort im Dunkeln Oberst Tan, rauchte und wartete auf sie. Feng und Yeshe zögerten, als sie Tans Miene sahen, und gingen dann wieder nach draußen, während Shan das Licht einschaltete und gegenüber von Tan Platz nahm. Auf dem Tisch lag eine Mappe. Daneben standen fünf Zigarettenstummel in einer Reihe.
Tans Gesicht wirkte verhärmt und angespannt. Er sah völlig erschöpft aus, als wäre er eben erst von einem langen Manöver zurückgekehrt. »Du hast es geglaubt, nicht wahr?« Er sprach zu seiner Zigarette. »Daß ich diese Dinge in dem Lotusbuch getan habe.«
»Ich habe lediglich wiederholt, was dort zu lesen steht«, sagte Shan. Die Stimmung war derart gereizt, daß die Luft zu knistern schien. »Ist es denn so wichtig, was ich glaube?«
»Zur Hölle, nein«, brüllte Tan.
»Warum fühlen Sie sich dann durch den Eintrag im Lotusbuch so beleidigt?«
»Weil es eine Lüge ist.«
»Sie meinen, weil es eine Lüge im Hinblick auf Ihre Person ist.«
»Sergeant Feng!« brüllte Tan.
Fengs Kopf erschien in der Türöffnung.
»Wo war ich 1963?«
»Wir waren im Grenzkontrollager 208. Innere Mongolei. Sir.«
Tan schob Shan die Mappe über den Tisch. »Meine Dienstakte. Alles. Versetzungen. Belobigungen. Tadel. Aufträge. Ich bin erst 1985 nach Tibet gekommen. Wenn du willst, sprich mit Madame Ko. Ich will, daß die Lügen aufhören.«
»Wollen Sie, daß Sungpo hingerichtet wird, oder wollen Sie, daß die Lügen aufhören?«
Tan funkelte ihn wütend an. Als er den Rauch durch die Nasenlöcher ausstieß, schien sein hageres Gesicht im trüben Licht körperlos über dem Tisch zu schweben. »Ich will, daß die Lügen aufhören«, wiederholte Tan.
»Das wird dem Mönch, der bei der 404ten erschossen wurde, auch nicht mehr helfen.«
»Das waren die Kriecher. Man hat mich vorher nicht um Rat gefragt.«
»Irgendwie fällt es mir schwer zu glauben, Oberst, daß Sie die Kriecher nicht aufhalten könnten, falls Sie das wollten«, sagte Shan leise.
An der Tür stieß jemand einen leisen, überraschten Fluch aus, und Shan sah gerade noch, wie Sergeant Feng sich auf den Exerzierplatz zurückzog.
Tan schwieg. Sein wütender Blick veränderte sich nicht.
»Der stellvertretende Ankläger Li hat mir ein Angebot gemacht«, eröffnete Shan ihm. »Er hat mir eine Gelegenheit aufgezeigt, alles zu seiner Zufriedenheit zu lösen.«
»Ein Angebot?« wiederholte Tan unheilvoll.
»Die Möglichkeit, alles zu einem hübschen kleinen Paket zu verschnüren. Er hat gesagt, Ankläger Jao habe in einem Korruptionsfall gegen Sie ermittelt. Deshalb hätten Sie Jao umbringen lassen. Er hat gesagt, falls ich gegen Sie aussagte, könnte er mich zu einem Helden machen.«
Tans Augen verengten sich zu zwei bedrohlichen Schlitzen. Seine Hand schloß sich um die Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag, und fing an, den Inhalt langsam zu zerquetschen. »Und wie lautet deine Absicht, Genosse?« Aus dem Päckchen rieselten Tabakkrümel.
Shans Blick blieb völlig ungerührt. »Oberst, ich würde sagen, Sie sind gefühllos, eigensinnig, aufbrausend, manipulativ und ziemlich gefährlich.«
Tan beugte sich vor. Er sah so aus, als würde er Shan jeden Moment an die Kehle springen.
»Aber Sie sind nicht korrupt.«
Tan blickte auf sein zerstörtes Päckchen Zigaretten. »Demnach hast du ihm nicht geglaubt.«
Shan schüttelte langsam den Kopf. »Sie haben Li nie vertraut. Das ist der Grund, aus dem Sie mich mit diesem Fall beauftragt haben. Sie haben damit gerechnet, er könnte etwas Derartiges versuchen. Wieso?«
»Weil er ein erbärmlicher Speichellecker der Partei ist.«
Shan dachte eine Weile nach und seufzte. »Kein Lügen mehr, haben Sie gesagt.«
Mit einer zornigen Geste wischte Tan die Schweinerei beiseite, die er auf dem Tisch angerichtet hatte. »Miss Lihua hat ihn vor ein paar Monaten dabei erwischt, wie er einen geheimen Bericht an das Parteibüro in Lhasa schicken wollte. Darin hat er sich darüber beklagt, daß Jao und ich inkompetent wären und keine Ahnung von modernen Verwaltungsmethoden hätten. Ferner wollte er darum ersuchen, uns zwangsweise in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen.«
»Das hätten Sie mir auch schon früher erzählen können.«
»Es handelt sich dabei doch wohl kaum um Beweismaterial in einem Mordfall.«
Shan faltete die Hände und musterte sie. »Li ist darin verwickelt, ich weiß es. Es gibt keinen direkten Beweis. Aber bei allem, was er sagt und tut, hängt dieser Geruch an ihm.«
»Geruch?«
»Zum Beispiel der Grund für seine Reise nach Kham.«
»Er ist nach Kham gereist, weil du dorthin wolltest.«
»Nein, er ist mir nicht gefolgt. Er hat bereits vorher gespürt, daß ich der Wahrheit zu nahe kam. Li hat folgendes erkannt: Falls ich zu der Überzeugung gelangte, es könnte einen Zeugen geben, würde ich mich auf die Suche nach dieser Person machen. In Baltis Wohnung wollte Li uns einreden, Balti hätte das Auto gestohlen und wäre in irgendeine Stadt geflohen, um es dort zu verkaufen. Aber Li wußte es besser. Da er nicht sicher war, ob ich den Köder geschluckt hatte, mußte Li dringend nach Kham reisen, denn er wußte mit Sicherheit, daß Balti noch am Leben war. Was bedeutet, daß er ihn in jener Nacht hat weglaufen sehen. Oder daß der Mörder es ihm erzählt hat.«