Dschuba Tschebobargo war anscheinend zu keiner Antwort fähig. Vermutlich hatte er nicht begriffen, was geschehen war.
Lady Melamori erhob sich graziös. Der arme Mann reagierte gar nicht darauf, dass sein Kopf so unerwartet vom Gewicht ihrer Füße befreit war. Die Lady griff ihn bei einer strohblonden Strähne und zog ihn - scheinbar mühelos - in Melifaros Büro hinüber. Der wiederum wiegte beeindruckt den Kopf und ging ihr nach.
Kaum saßen wir bei Tisch, begann ich zu leiden. Mit dem verzerrten Gesicht eines Helden aller Weltkriege sehnte ich mich danach, das nette Gespräch zu wiederholen, das ich mit meinen Kollegen vor ein paar Tagen im Fressfass geführt hatte, und konnte deren Rückkehr daher kaum erwarten. Im Übrigen hatte ich den Verdacht, so ein nettes Gespräch würde auch ohne meinen Wunsch zustande kommen. Juffin wollte nämlich endlich eine Tasse Kamra trinken.
»Vielleicht sollten wir für unsere Abteilung ein paar Flaschen guten Wein bestellen. Irgendwie bin ich müde heute«, stellte Lonely-Lokley fest. »Ich hoffe, niemand hat was gegen Wein?«
Und wirklich waren alle mit Schurfs Bestellung einverstanden. Schließlich hatten wir etwas zu feiern! Vor wenigen Stunden erst hatten wir einen Fetan - eine der gefährlichsten und mächtigsten Spielarten der dunklen Kraft in dieser Welt - aufgespürt und unschädlich gemacht. Darüber hinaus hatten wir eine Menge verrückt gewordener kleiner Leutchen aus dem Verkehr gezogen. Und obendrein hatten wir Dschuba Tschebobargo kennengelernt, den Besitzer von Zauberhänden!
Als unsere Bestellung aus dem Fressfass eintraf, zog Lonely-Lokley eine löchrige Tasse aus dem Mantel, die ich schon kannte. Wiederum schaffte er es, mich in Erstaunen zu versetzen, indem er eine Flasche Nordlicht öffnete und den Inhalt langsam in die Tasse schüttete, deren Größe mit Sir Schurfs unersättlicher Gier natürlich nicht mithalten konnte. Doch auch diesmal drang kein Tropfen durch die vielen Löcher. Im Gegenteiclass="underline" Eine Säule aromatischen Weins stieg leicht zitternd über dem Tassenrand in die Flöhe. Lonely-Lokley trank von der Oberkante des flüssigen Eiszylinders, der daraufhin langsam, aber sicher verschwand, bis nur noch eine leere Tasse vor unserem Helden stand. Ich wollte mich bekreuzigen, überlegte dann aber, dass diese Geste in Echo als Magie irgendeines unerlaubten Grades missverstanden werden könnte, und beherrschte mich deshalb.
»Geht es Ihnen schon besser, Sir Schürf?«, fragte Juffin fürsorglich.
»Selbstverständlich. Vielen Dank für die Stärkung.« Auf dem Gesicht von Lonely-Lokley war tatsächlich keine Spur von Müdigkeit mehr zu entdecken.
Nach wie vor aber war mir manches nicht klar, und ich suchte nach Erklärungen.
»Wie hat Dschuba Tschebobargo die Puppen eigentlich zum Leben erwecken können?«, fragte ich Sir Juffin.
»Dschuba ist wirklich ein großer Meister. All die Puppen hat er allein mit Hilfe erlaubter Magie und mit seinen wunderbaren Händen geschaffen. Richtig lebendig waren sie freilich nicht, sondern nur imstande, bestimmte Dinge zu tun. Zum Beispiel konnten sie das ganze Geld und allen Schmuck, den sie nur zu tragen vermochten, zusammenraffen und damit zu ihrem Schöpfer zurückkehren. Eine ausgezeichnete Idee! Kompliment! Hätte Melifaro sich nicht mit dieser Sache beschäftigt, dann hätte es wohl noch Jahre gedauert, ehe jemand Tschebobargo auf die Schliche gekommen wäre. Und in dieser Zeit hätte er ein riesiges Vermögen zusammenräubern können. Der heutige Vorfall allerdings hätte die ganze Idylle ohnehin beendet.«
»Was war überhaupt los? Warum waren die Puppen plötzlich so wütend?«, fragte ich. »Soweit ich weiß, ist so was doch früher nicht passiert.«
»Hast du noch immer nicht kapiert, was los war? Was war das wohl für ein Männchen, das aus dem Haus deiner Nachbarin gesprungen ist und ihr unglückliches Opfer abgeknutscht hat?«
»Eine Puppe von Dschuba Tschebobargo!«, rief ich. Endlich war mir die Erleuchtung gekommen. »Lady Feni hat sie mit anderem antiquarischem Plunder erworben! In ihrem berüchtigten Haus wurde die Puppe dann verrückt - genau wie das Amulett, das mich überfallen hat. Vielleicht wäre ich an ihrer Stelle ja auch übergeschnappt. Aber was ist mit den übrigen Puppen passiert? War das eine Epidemie?«
»Wenn du willst, kannst du dich sehr gut ausdrücken, Max. Es war tatsächlich eine Epidemie. Diese verrückte Puppe ist nach Hause zurückgekehrt und hat große Veränderungen ausgelöst. Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr, dass die verzauberten Puppen in Anwesenheit eines Fetans nicht nur ihre Eigenschaften ändern, sondern sogar gewisse Eigenschaften auf gleichartige Geschöpfe übertragen können. Der heutige Tag war dem wissenschaftlichen Fortschritt zweifelsohne wohlgesinnt. Und kleinere existenzielle Wunden hat er auch geschlagen.«
»Obendrein hat er für Streitereien mit den Nachbarn gesorgt«, fügte ich hinzu.
»Ich hab dir ja immer gesagt, dass du dieses Loch nicht mieten sollst, Junge!«, rief Juffin und schenkte mir treu sorgend Kamra nach.
»Und ich hab von Anfang an gesagt, dass es mir nur um unsere gute Sache geht. Wie viele Seelen hätte dieser Fetan wohl noch gefressen, wenn er nicht auf mich gestoßen wäre!«
»Die Leute aus der Provinz verfügen nun mal über eine ausgezeichnete Intuition - davon bin auch ich inzwischen fest überzeugt«, resümierte Sir Lonely-Lokley.
»Außerdem sind sie ungewöhnlich oft erfolgreich«, meinte Juffin lächelnd, wandte sich an mich und erklärte: »Jetzt hast du bestimmt gemerkt, dass du das Geschenk des Königs genau rechtzeitig bekommen hast. Ich hab noch eine wissenschaftliche Entdeckung für dich - hoffentlich die letzte für heute. Wisst ihr eigentlich, liebe Leute, dass ich herausgefunden habe, woher die wunderbaren Eigenschaften der Kinder der Purpurroten Perle stammen?«
»Wenn wir loslegen, kommen irgendwann alle Staatsgeheimnisse ans Tageslicht«, polterte die ermüdete Lady Melamori, richtete sich im Stuhl auf und fügte hinzu: »Ausgezeichnet, Sir Juffin! Melifaro wird uns gleich erzählen, was er mit dem Polizisten - der Nummer vier unseres Weißen Blättchens - aus Tschebobargo rausgequetscht hat. Dieser Polizist ist wirklich ein Teufelskerl. Der arme Tschebobargo ist außer sich. Als ich auf seine Spur trat, war ich schrecklich sauer auf ihn. Das ist mir jetzt ein wenig peinlich. Dem armen Dschuba geht es nach all den Untersuchungen sowieso nicht besonders. Warum steht dieser Schichola eigentlich auf dem vierten Platz? Meiner Meinung nach sollte er mindestens auf Platz zwei vorrücken.«
»Wenn ich richtig verstanden habe, zeigt sich die Intelligenz von Leutnant Schichola darin, dass er Angst vor Ihnen hat, Lady, und das nicht zu verbergen sucht.«
»Unsinn!«, rief Melamori entrüstet. »Wir haben uns nur über Dienstliches unterhalten.«
»Das reicht - soweit mir bekannt ist - völlig aus. Aber Spaß beiseite! Erzählen Sie weiter, Lady.«
»Ach, lassen wir das! Sie haben bestimmt viel interessantere Neuigkeiten. Mein prächtiger Sir Juffin - spannen Sie mich nicht allzu sehr auf die Folter!«
»Das tu ich doch gar nicht. Sie haben mich nur unterbrochen. Sie hätten ruhig an der Tür lauschen und im richtigen Moment eintreten können. Aber gut. Wie ich Max schon vor Stunden auf seine Nachfrage hin erklärt habe, können Fetane die Erinnerung, die ihre Opfer an sie haben, in die entlegensten Winkel des menschlichen Bewusstseins zurückdrängen. Daher können sich die unglücklichen Opfer eines Fetans nie an ihre Träume erinnern und führen ihr merkwürdiges Befinden auf andere Ursachen zurück. Infolgedessen bleiben sie zu Hause, gehen ein weiteres Mal schlafen und liefern sich dadurch aufs Neue dem hungrigen Geschöpf aus. Als ich gestern deine Alpträume verfolgte, Max, habe ich erlebt, wie deine Amulette arbeiten, und mit eigenen Augen gesehen, was das Kind der Purpurroten Perle ausgerichtet hat. Du hättest deine Perle gar nicht neben dem Kopfkissen lassen müssen. Es hätte völlig gereicht, sie in der Hand zu halten. Wie sich erwiesen hat, helfen diese Perlen ihrem Besitzer, unter allen Umständen das Gedächtnis zu behalten. Das ist schon das ganze Geheimnis. Und jetzt, Lady Melamori, schlucken Sie bitte runter, was Sie im Mund haben, und berichten Sie, was Ihnen widerfahren ist.«