Ich hätte ewig in meinem Sessel sitzen bleiben können. Unangenehme Dinge will man ja immer auf morgen verschieben. Doch leider war dieses Morgen nun angebrochen. Die Erinnerung an die Gemütlichkeit vom Vorabend, an den netten Besuch bei Sir Juffin also, musste ich beiseiteschieben, um mich auf den kommenden Auftrag zu konzentrieren. Das kleine warme Jetzt - dessen war ich mir bewusst - blieb noch kurz in meinem Sessel zurück, um sich alsbald zu verflüchtigen.
Ich stand auf und begann, mich vorzubereiten. Ella und Armstrong - meine etwas größer gewordenen Katzen - meldeten laut, ihre Frühstückszeit sei gekommen. Zum Abschied war ich großzügig, vielleicht sogar verschwenderisch.
»Von nun an wird euch ein anderer füttern - ein Herr Urf«, verkündete ich meinen Tieren, während ich ihre Fressnäpfe füllte. »Er soll ein guter Mensch sein und ist auf dem Bauernhof groß geworden, wo er genauso haarige Kleintiere gefüttert hat wie euch. Ich bin bald zurück. Ich gehe nur ein wenig ins Gefängnis und komme dann wieder.« Als mir auffiel, welchen Unsinn ich mir da zusammenmonologisierte, brach ich in Gelächter aus.
Armstrong und Ella sahen mich mit blauen, so unbewegten wie undurchdringlichen Augen an, die denen von Sir Juffin auf eigentümliche Weise glichen.
Der Morgen war nicht mehr so kalt wie die Nacht. Ich genoss jeden Schritt meines Spaziergangs zum Haus an der Brücke. Der Gedanke, ich könnte demnächst in Cholomi - wie alle meine Vorgänger in Zelle Nummer Fünf - ein plötzliches Ende finden, schärfte meine Sinne angenehm. Vielleicht war das alles ja nur ein Zusammen treffen verschiedener Zufälle? Aber das wäre wohl zu einfach.
Doch das Herz lässt sich nicht betrügen - mein Herz jedenfalls nicht. Und langsam wurde es schwer wie Blei. Was würde wohl passieren, wenn ich in Cholomi eintraf? Ich wurde immer nervöser. Auch der Gedanke daran, dass der mächtige Lonely-Lokley demnächst wie eine klitzekleine Puppe unter meiner Handfläche säße, konnte mich nur teilweise beruhigen. Denn immerhin musste es mir gelingen, ihn im richtigen Moment aus meinem Körper zu befreien und zu voller Größe anwachsen zu lassen.
Sir Lonely-Lokley erwartete mich im Saal der allgemeinen Arbeit. Er war unerschütterlich, gelassen und ruhig wie stets. Um seine Zeit sinnvoll zu nutzen, schrieb er etwas in sein Notizbuch. Als ich ihn ansah, fasste ich wieder Mut.
»Na, Sir Schürf, sind Sie bereit, mein Opfer zu werden?«
»Ihr Opfer? Sir Max, Sie überschätzen die Bedeutung dessen, was vor uns liegt!«, meinte er ungerührt. »Glauben Sie mir - ich habe keinen Grund zur Beunruhigung. Und Sie noch weniger.«
»Vielen Dank für Ihr Vertrauen!«, sagte ich. Dann machte ich mit der linken Hand eine Geste, die für die Umstehenden unsichtbar war, und Sir Lonely-Lokley verschwand. Theoretisch war mir zwar klar, dass er nicht wirklich verschwunden war, sondern sich zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken befand, praktisch jedoch hatte ich das Gefühl, den armen Mann aus der Welt geschafft zu haben.
»Schön hast du das gemacht, Sir Nächtlicher Alptraum«, begeisterte sich Melifaro, der kurz zuvor aus seinem Büro gekommen war. »Sag mal, kannst du ihn jetzt nicht hundert oder zweihundert Jahre lassen, wo er ist?«
»Dagegen dürfte Lady Lokley manchen Einwand haben, und ich will ihr keinen Kummer bereiten«, sagte ich lächelnd. »Und du - warum bist du so früh im Büro?«
»Juffin hat mich geweckt und mir per Stummer Rede mitgeteilt, dass er erst mittags kommen kann. Er hat mir befohlen, dich zu begleiten. Offenbar will er meinen Tod. Normalerweise steht er immer schon im Morgengrauen auf, doch heute hat er mich zu nachtschlafender Zeit aus den Federn geholt!«
»Er versteckt sich wohl vor mir!«, sagte ich frech.
»Vor dir? Du bist gut! Soweit ich die Geschichte des Vereinigten Königreichs kenne, hat sich Sir Juffin in den letzten hundert Jahren vor niemandem gedrückt. Vielleicht ist ihm das in der Epoche der Orden mal passiert, aber damals haben sich alle voreinander versteckt. Womit willst du ihn eigentlich so erschreckt haben?«, fragte Melifaro und setzte sich mir gegenüber.
»Wenn du mir Kamra gibst, erzähle ich es dir!«, sagte ich, setzte mich ebenfalls und legte die Beine auf den Tisch. Aus welchem der vielen idiotischen Filme, die ich in meinem Leben gesehen habe, dieses Gehabe stammte, weiß ich nicht mehr. »Du sollst mich also begleiten? Dann musst du dich jetzt schon gut um mich kümmern, damit ich das Haus zufrieden verlasse. Also verwöhn mich nach Strich und Faden!«
»Einen Verbrecher zu verwöhnen!«, brummte Melifaro. »Aber gut, genieße meine Gastfreundschaft!«, setzte er hinzu, ging in sein Büro und holte einen Krug und zwei überdimensionierte Tassen.
»Also noch maclass="underline" Weshalb sollte unser Ehrwürdiger Leiter sich eigentlich vor dir drücken?«
»Weil ich zu viele Fragen stelle. Deswegen will er mich ins Gefängnis verbannen.«
»Ach deshalb! Ich dachte schon, du hättest gestern Abend versucht, ihm ein aus Pferdemist hergestelltes Getränk unterzujubeln - eine Spezialität aus euren Leeren Ländern.«
»Das wäre was gewesen!«, meinte ich und senkte bescheiden die Augen. »Aber Sir Juffin hat mir gesagt, sein Tagesantlitz müsse alle unangenehmen Aufgaben für ihn erledigen. Und gut, dass du das Pferdemistgetränk erwähnt hast, Melifaro, denn jetzt kann ich dir etwas richtig Leckeres anbieten!«
»Bloß nicht!«, rief er, blickte erschrocken drein und floh in sein Arbeitszimmer. Nachdem er sich von dort aus ein paar Mal in gespielter Panik nach mir umgesehen hatte, wurde ihm seine Show langweilig, und er kehrte zu mir zurück.
Frotzelnd verbrachten wir noch eine angenehme halbe Stunde. Lady Melamori, auf die ich insgeheim noch immer Absichten hatte, tauchte nicht auf. Schließlich setzte ich mich ans Steuer meines A-Mobils und fuhr nach Cholomi. Auf in den Kampf!
»Sie sind es wirklich!«, rief der alte Kommandant des Gefängnisses und verdeckte ehrfürchtig die Augen, hielt sich also genau an die Vorschriften des Begrüßungsrituals. »Ich freue mich, Sie willkommen zu heißen. Mein Name ist Marunarch Antarop.«
Kaum hatte ich mich ihm vorgestellt, wurde ich in den Frühstückssaal geführt.
»Wie dünn Sie sind, Sir Max! Ich weiß, dass die Arbeit beim Geheimdienst sehr schwer ist. Sie müssen einfach mehr essen!«, rief Sir Marunarch immer wieder und füllte meinen Teller dabei ein ums andere Mal. »Keine Sorge: Es wird Ihnen demnächst viel besser gehen - das verspreche ich Ihnen!«
Das fantastische Frühstück, das Marunarch mir vorgesetzt hatte, ähnelte gefährlich einem festlichen Abendessen. Der Kommandant behandelte mich wie ein fürsorglicher Großvater. Ich war ins Gefängnis gegangen und in einem Sanatorium gelandet - das Leben hält nun mal manche Überraschung bereit.
»Wissen Sie, es geht mir schon viel besser. Ich habe mindestens zehn Kilo zugenommen«, seufzte ich nach einer Stunde ununterbrochenen Essens. »Vielen Dank, Sir Marunarch. Aber jetzt muss ich in meine Zelle - darum bin ich schließlich hier.«
»Sie tun mir wirklich leid! Ich fürchte, es wird nicht gerade bequem für Sie werden, doch Sir Juffin hat mich gebeten, Sie nicht in einem Gästezimmer unterzubringen, sondern in einer echten Zelle. Was meinen Sie - war das ein Scherz von ihm?«
»Schön wär's!«, antwortete ich lächelnd. »Nein, Sir Marunarch, ich muss tatsächlich in eine Zelle ziehen.«
»Na gut«, seufzte der Alte. »Gehen wir. Sie wissen doch sicher, dass Sie die Stumme Rede dort nicht benutzen können? Da kann ich nichts machen - so ist das Gefängnis nun mal gebaut. Schließlich ist Cholomi ein magischer Ort, und wir einfachen Angestellten können nicht entscheiden, was hier möglich ist und was nicht.«
»Ja, das hat man mir schon gesagt.«
»Wenn Sie also mit Sir Juffin oder jemand anderem sprechen möchten, sagen Sie bitte den Wächtern, dass Sie spazieren gehen wollen. Dann werden Sie zu mir geführt, egal zu welcher Tageszeit. In diesem Zimmer hier können Sie machen, was Sie wollen. Selbstverständlich habe ich meine Mitarbeiter über Ihr Kommen informiert.«