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Eins musste man Sir Schürf lassen: Die nordische Sagenund Mythenwelt gefiel ihm sehr! Besondere Vorliebe entwickelte er für Göttervater Odin, der nicht nur Schutzherr der Walhalla ist, in deren Mauern die auf dem Schlachtfeld gefallenen Krieger zechen, sondern den Menschen auch den Dichtermet geschenkt hat.

Und der Schnitter des Lebensfadens schätzte die Poesie so sehr, dass er vor Ehrfurcht schier zu beben begann.

Nicht nur die unerwartete Übereinstimmung unserer literarischen Vorlieben, sondern auch meine große Portion Kachar-Balsam hatte mich so entflammt, dass ich meinem Kollegen auf die Schulter klopfte, ohne zu bedenken, dass diese Geste im Vereinigten Königreich engsten Freunden Vorbehalten ist. Glücklicherweise erhob Sir Schürf keine Einwände gegen den offiziellen Beginn unserer Freundschaft. Im Gegenteiclass="underline" Er schien sehr zufrieden damit.

Erst später begriff ich, wie viele Verpflichtungen die Ehre mit sich brachte, ein enger Freund von Sir Lonely- Lokley zu sein. In Echo gibt es unterschiedlichste Freundschaftsrituale. Deshalb beschloss ich, Sir Juffin untertänigst zu bitten, mich darüber aufzuklären, wie man hier Freundschaften pflegt, und nahm mir außerdem vor, in einem eigens dafür angelegten Heft die Bedeutung jeder Geste und jedes Gesichtsausdrucks zu protokollieren. Hauptsache, ich würde in der nächsten halben Stunde niemanden beleidigen. Aber bei mir musste man immer mit allem rechnen.

Dann beendeten wir unser literarisches Gespräch, riefen einen Wächter und verließen die Zelle. Wir gingen zum Kommandanten, wo wir ein ausgezeichnetes Frühstück und eine Menge frische, heiße Kamra bekamen. Das war einfach fantastisch. Ich kam endlich wieder richtig zur Besinnung und wollte meine wachsende Neugier stillen.

»Verraten Sie mir doch, Sir Schürf, wie Sie sich gefühlt haben, als Sie winzig klein waren. Ich meine natürlich nicht in Ihrer Kindheit, sondern während der langen Zeit, die Sie zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken verbracht haben.«

»Welche lange Zeit denn?«, fragte Lonely-Lokley und zuckte die Achseln. »In den drei Stunden bin ich etwas hungrig geworden.«

»In welchen drei Stunden denn?«

»Wollen Sie sagen, mein Zeitgefühl hat mich getrogen?«

»Wir haben drei Tage und drei Nächte in der Zelle verbracht!«, rief ich.

»Ein interessanter Effekt«, stellte Lonely-Lokley fest. »Und gut für mich. Drei Tage sind nämlich eine lange Zeit für jemanden, der vergessen hat, sich belegte Brötchen mitzunehmen. Da kann ich von Glück sagen, dass sich mein Zeitgefühl so stark verändert hat.«

Ich hatte natürlich noch viele Fragen zu seinem Aufenthalt in meiner Hand, doch Sir Schürf meinte nur trocken, Erfahrungen solcher Art solle man besser persönlich machen, statt fremden Beschreibungen zu trauen. Dann bot er mir großzügig an, mich meinerseits in seiner Faust einzuschließen. Ich allerdings kam zu dem Schluss, vorerst genug Eindrücke gesammelt zu haben, und wechselte das Thema.

Nach dem Frühstück nahmen wir Abschied vom gastfreundlichen Sir Marunarch. Es ging mir sehr gut, doch ich fühlte mich unter dem Einfluss der großen Portion Kachar-Balsam eigenartig schwerelos und hatte Lust, meine Manteltaschen mit Steinen zu befüllen, um nicht davonzuschweben.

»Sie sollten sich besser nicht ans Steuer setzen«, bemerkte Lonely-Lokley beim Einsteigen ins A-Mobil. »Sie sind zwar der beste Fahrer, den ich kenne, aber als es Kachar-Balsam noch an jeder Ecke zu kaufen gab, war es streng verboten, sich in Ihrem Zustand ans Lenkrad zu setzen.«

Dieser Argumentation konnte ich mich nicht verschließen.

»Ihr Bewohner der Grenzländer seid merkwürdige Wesen!«, meinte Sir Schürf, als er auf die hölzerne Fähre fuhr, die zwischen Cholomi und der Altstadt von Echo verkehrte. »Zugegeben - ich weiß noch nicht, worin sich die Unterschiede zu uns gebürtigen Hauptstädtern am deutlichsten zeigen, aber Sie, Sir Max, unterscheiden sich ohnehin von anderen Fremden. Doch leider bin ich ein schlechter Theoretiker«, schloss Lonely- Lokley und vertiefte sich in sein Arbeitsheft. Vermutlich wollte er seine Eindrücke zu Papier bringen, solange sie noch frisch waren.

»Worauf wollen Sie hinaus, Schürf?«, fragte ich vorsichtig.

»Nehmen Sie mir das bitte nicht krumm, Sir Max! Es herrscht nur allgemein die Ansicht, Kachar-Balsam habe - wie alle anregenden Getränke - eine deprimierende Wirkung auf die Psyche sogenannter Barbaren. Verzeihen Sie mir dieses grobe Wort. Manche Heiler behaupten sogar, Kachar-Balsam sei für das seelische Gleichgewicht Ihrer Landsleute gefährlich, und meinen, solche Getränke dürften nur gebürtige Uguländer zu sich nehmen. In Ihrem Fall sieht das Ganze anders aus: Ihre Psyche wird vom Kachar-Balsam kaum verändert - anders als das Bewusstsein manches Vertreters der sogenannten zivilisierten Völker. Nur das habe ich gemeint. Und ich bitte nochmals um Verzeihung, wenn ich taktlos gewesen sein sollte.«

»Haben Sie schon vergessen, Schürf? Sie sind jetzt mein Freund und können mir an den Kopf werfen, was Sie wollen.«

Ehrlich gesagt: Ich atmete vor Erleichterung auf. Als Lonely-Lokley über meine seltsamen Eigenschaften gesprochen hatte, befürchtete ich schon, er habe meine angebliche Herkunft als Lüge durchschaut und Juffins Bemühungen seien umsonst gewesen. Aber nein, ihm war es nur seltsam vorgekommen, dass ich nach ein paar Schluck Kachar-Balsam nicht nackt auf dem Tisch getanzt hatte. Na ja, nächstes Mal musste ich seinen Erwartungen wohl besser entsprechen.

Sir Juffin war sehr zufrieden, als er uns gesund, wohlbehalten und siegreich zurückgekehrt sah.

»Ich glaube kaum, dass für Magister Annoch das Problem des Lebens nach dem Tode noch aktuell ist«, rief ich schon von der Türschwelle her. »Hätten wir ihn erst nach seiner Auferstehung umgebracht, wäre vielleicht alles Mögliche passiert. Aber wir haben ihn erledigt, als er gerade noch der Schattenwelt angehörte. Sündige Magister! Was schleppe ich denn da mit mir herum? Warum hat mich niemand gebremst?«, wunderte ich mich und betastete die Steine in meinem Mantel.

»Auf jeden Fall bin ich sicher, dass Annoch seine Forschungen endgültig abgeschlossen hat«, sagte Juffin begütigend zu mir.

»Das glaube ich auch. Dieser Magister hat mir absolut nicht gefallen. Natürlich hätte ich ihn Ihnen gern lebend geliefert - wenn von lebend überhaupt die Rede hätte sein können. Aber das hat leider nicht geklappt.«

»Mach dir darüber keine Gedanken, Junge! Das hätte nie und nimmer hingehauen.«

»Das hab ich von Anfang an gewusst«, warf Lonely- Lokley ein. »Aber Befehl ist Befehl.«

»Ich war dumm, doch ich werde mich bessern«, meinte ich entschuldigend, warf mich in einen Sessel und merkte rasch, dass ich kurz davor war, einzuschlafen. Mit halb geschlossenen Augen murmelte ich: »Vergessen Sie nicht, von Ihrer Nummer mit dem Wasser zu erzählen - das war vielleicht was ...«

Weil ich noch immer unter dem anregenden Einfluss des Kachar-Balsams stand, schlief ich höchstens eine Stunde. Als ich aufwachte, fühlte ich mich leicht wie eine Feder und obendrein erstaunlich munter. Meine Kollegen tranken Kamra, die sie im Fressfass bestellt hatten, und unterhielten sich leise.

»Ah, er ist wieder wach«, rief Juffin fröhlich, nickte zu mir rüber und sah mich dabei verdächtig enthusiastisch an, als ob ich ein Festtagspudding wäre, der genau die richtige Konsistenz hatte, um gierig den Löffel darin zu versenken. Juffin hätte sich beinahe die Lippen geleckt.

Aufgegessen hat er mich dann aber doch nicht. Stattdessen führte er eine medizinische Untersuchung durch, die allerdings keine Ähnlichkeit mit einer ärztlichen Prozedur hatte.

Ich bekam die Anweisung, mich an die Wand zu stellen. Einige Zeit musterte Juffin mich mit seinen leuchtenden Augen. Das war nicht besonders angenehm und hatte mich am Anfang unserer Bekanntschaft stets verlegen gemacht. Nun befahl er mir, mich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen, was mich natürlich riesig begeisterte. Nachdem mein Chef einige Zeit meinen Hintern und dessen Umgebung untersucht hatte, klopfte er mir - weil er noch nicht zufrieden war - den Rücken ab. Diese Massage gefiel mir besser als das Blickduell, das ihr vorausgegangen war. Dann legte er mir die schwieligen Hände - die warme Rechte wie die eiskalte Linke - in den Nacken, und ich spürte plötzlich Unheil. Beinahe wäre ich gestorben, und nichts wäre von mir übrig geblieben. Dann schrie ich - nicht vor Schmerz, sondern um mir und der ganzen Welt zu zeigen, dass ich noch lebte. Es mag sich seltsam anhören, ist aber wahr: Wer schreit, versichert sich seiner Existenz.