»Natürlich - gefährlicher als viele andere«, bemerkte Juffin zufrieden und mit der Miene eines Künstlers, der gerade ein Meisterwerk geschaffen hat.
»Es ist alles so seltsam. Als ich noch auf der Erde lebte, hab ich an mir keine besonderen Eigenschaften festgestellt. Ich war ein Mensch wie alle anderen. Zwar hatte ich merkwürdige Träume, aber das war meine ganz persönliche Angelegenheit. Vielleicht träumten auch andere so seltsame Dinge, doch sie schwiegen darüber. Und dann kam ich hierher, wo jeder Tag etwas Neues bringt. Vielleicht wollen Sie mich bloß sezieren, um zu sehen, wie ich funktioniere.«
»Ausgezeichneter Gedanke, Max. Du bist wirklich nicht dumm! Leicht ist dir nicht beizukommen. Kannst du dich erinnern, was mit dir im Alten Dorn passiert ist?«
»Dort, wo ein großer, lustiger und rothaariger Junge als Wirt arbeitet? Wie heißt er eigentlich? Ach ja - Tschemparkaroke«, sagte ich und lächelte verlegen.
Es war kein Ereignis, an das ich mich gern erinnerte. Juffin hatte mich immer mit in den Alten Dorn genommen - damals, als ich noch in der Probezeit war. Er hatte entschieden, dass ich unbedingt die Rekreationssuppe probieren sollte, die alle Bewohner des Vereinigten Königreichs in den höchsten Tönen preisen.
Nach meiner Einschätzung hat die Suppe eine leicht narkotisierende Wirkung, die allerdings unschädlich und angenehm ist. Daher naschen oft ganze Familien davon. Und daher stürzte auch ich mich ohne Angst in psychedelische Abenteuer, obwohl ich mein Leben lang vor Drogen und Drogensüchtigen Angst gehabt habe. Meine einzige Erfahrung in diesem Bereich, die ich natürlich in einer der höheren Klassen des Gymnasiums gemacht hatte, erwies sich als so misslungen, dass ich - was Drogen anlangt - beinahe eine Phobie habe.
Die Rekreationssuppe hatte mich schwer in die Klemme gebracht. Mein Fremdsein, das mir mitunter nicht mehr bewusst war, meldete sich mit voller Wucht in genau dem Moment zurück, da ich mit der ersten Portion fertig geworden war. Der arme Juffin hatte also in Gesellschaft eines Mannes zu sitzen, der seiner Sinne nicht mehr recht mächtig war und gedankenlos über seinen Tellerrand kicherte. Aber auch für mich war es keine besonders angenehme Erfahrung, da ich unter Halluzinationen litt und Probleme mit der Koordinierung meiner Bewegungen hatte. Die übrigen Gäste des Alten Doms waren vermutlich über mein Benehmen schockiert.
Diesem Ereignis folgten Entzugserscheinungen, die mich geschlagene vierundzwanzig Stunden lang aufs Heftigste quälten. Selbst Sir Juffin, der ein ausgesprochen qualifizierter Mediziner ist, konnte mir nicht beistehen, weil er - trotz seines Talents als Heiler - schlicht machtlos war. Also hatte ich die ganze Zeit leiden müssen.
Als ich wieder bei Sinnen war, schwor ich mir, um den Alten Dorn künftig einen möglichst großen Bogen zu machen. Juffin hieß diese Entscheidung gut und sah seither davon ab, in meiner Gesellschaft Rekreationssuppe zu essen, denn er wollte mich nicht verführen.
»Sagen Sie bloß niemandem, dass man mich mit dieser Suppe fertigmachen kann. Vielleicht gießt mir sonst jemand etwas davon in meine Kamra, um zu schauen, was mit mir passiert.«
»Was redest du denn da, Max? Das wäre ja ein Giftmordversuch an einem hohen Beamten! Nach unseren Maßstäben ist das ein Kapitalverbrechen. Aber wie dem auch sei - ich fahre jetzt nach Hause. Und du versuchst, Lady Melamori morgen besser zu behandeln. Es geht ihr in letzter Zeit nicht besonders gut. Ich glaube, in den nächsten Tagen kann sie nicht richtig arbeiten. In ihrem Beruf ist Selbstvertrauen das Lebenselixier, und jede Beschädigung ihres Egos bedeutet für sie die Gefahr, ihr Talent einzubüßen.«
»Wollen Sie mich beschwichtigen, Juffin? Natürlich werde ich nett zu ihr sein. Und zwar nicht, weil ... Aber egal. Sie werden sehen: Alles kommt wieder in Ordnung. Hätte ich gewusst, dass sie mit mir Experimente gemacht hat, hätte ich mich gleich bei ihr darüber beschwert, dass meine Stimmung so schlecht war.«
»Kopf hoch, Max! Denk an die vielen angenehmen Dinge, die uns die Welt zu bieten hat. Das ist deine Aufgabe. Bis morgen!«
Mit diesen Worten eilte Sir Juffin auf die Straße, wo ihn sein treuer Diener Kimpa erwartete.
Mein Chef hatte recht: In dieser Welt gab es wirklich viele angenehme Dinge, und ich sollte wohl tatsächlich die klugen Ratschläge von Sir Juffin Halli berücksichtigen, meine Kräfte sammeln, mich aufraffen und ein neues Leben beginnen. Zum Beispiel durch einen Besuch im Stadtteil Rendezvous, wie das viele allein lebende Ladys und Gentlemen tun - und von denen gibt es in Echo jede Menge! Im Vereinigten Königreich werden Ehen - wie es sich gehört - in reifem Alter geschlossen, aber längst nicht alle heiraten. Hier heißt es nicht, die Familie sei für jeden das Beste, und im Alter allein zu sein, gilt nicht als Zeichen eines misslungenen Lebens. Auch das Gegenteil allerdings behauptet hier niemand. Die öffentliche Meinung schweigt dazu - also ist es jedem selbst überlassen, wie er sein Leben gestalten will.
Vor kurzem hatte ich von Melifaro, den meine Unwissenheit in Verlegenheit gebracht hatte, genaue Informationen über den Stadtteil Rendezvous bekommen, die er mir mit der Bemerkung überreicht hatte, ich sei und bleibe zwar ein Barbar, aber gewisse elementare Dinge müsse ich dennoch erfahren.
Was ich aus Melifaros Unterlagen über die hiesige Lebensweise erfuhr, überraschte mich. Trotz meines fast panischen Wunsches, Ordnung in mein Leben zu bringen, bezweifelte ich, schon zu einem Besuch dieses Stadtteils bereit zu sein.
Das möchte ich Ihnen gern näher erklären. Wenn Sie von einer Party in Gesellschaft eines Mädchens nach Hause kommen, das Sie noch nicht besonders gut kennen, und wenn Ihnen wie dem Mädchen klar ist, wie die Nacht enden wird, dann ist das natürlich nicht das große Liebesabenteuer, von dem Sie in Ihrer Jugend geträumt haben. Immerhin aber geschieht alles einvernehmlich: Zwei Erwachsene treffen eine mehr oder weniger klare Entscheidung. Ob sie nur eine Nacht oder länger Bestand hat, hängt damit zusammen, ob zwei Körper eine dauerhaftere Verbindung eingehen wollen.
In Echo läuft die Anbahnung von Beziehungen ganz anders.
Die Besucher des Stadtteils Rendezvous sind Suchende oder Wartende. Jeder entscheidet jedes Mal selbst, zu welcher Gruppe er gehören will. Im einen Teil des Viertels stehen Häuser, die suchende Männer und wartende Frauen ansteuern; im anderen Teil sammeln sich suchende Frauen und wartende Männer. Vor dem Eingang hängen keine Informationen, weil man davon ausgeht, alle wüssten sowieso, warum und wohin sie gekommen sind.
Kaum haben die Suchenden das Haus ihrer Wahl betreten, müssen sie an einer seltsamen Lotterie'teilnehmen und aus einer Vase eine nummerierte Kugel ziehen. Allerdings gibt es auch Kugeln, auf denen keine Nummer steht. Wer eine solche zieht, muss sich damit abfinden, dass das Schicksal ihm an diesem Abend ein Liebestreffen verwehrt hat. In so einem Fall muss der Besucher sich verabschieden und nach Hause gehen. Theoretisch kann so ein Glückloser die Prozedur im nächsten Haus wiederholen, doch das gilt als schreiende Missachtung des Fatums, und gegen das Schicksal mag sich kaum einer auflehnen.
Nachdem der Suchende seine Kugel gezogen hat, geht er ins Gästezimmer, also dorthin, wo die Wartenden sich aufhalten. Dort hat der Suchende die Anwesenden laut abzuzählen, bis er an die Person gerät, deren Nummer auf seiner Kugel steht.
Übrigens kontrolliert niemand diese Prozedur. Also ist es durchaus möglich, dabei zu mogeln. Aber nicht einmal Melifaro hat begriffen, wie ich auf den Gedanken kommen konnte, das Verfahren lade zum Schummeln ein. Ich hatte den Eindruck, er habe in seinem Leben noch nichts Abwegigeres gehört als diesen Verdacht. Aus seiner Reaktion schloss ich, dass sich - was den Stadtteil Rendezvous anging - noch niemand mit dem Problem des Mogelns beschäftigt hatte. In Echo denken alle, Fortuna sei eine äußerst launische Göttin, mit der nicht zu spaßen ist.