»Danke«, sagte Wiese kalt.
Neubauer schloß die Tür hinter ihm und kam zurück in den Raum. Die würzige, blaue Rauchwolke des Tabaks umwehte ihn. 509 roch sie und fühlte plötzlich eine reißende Gier in seinen Lungen. Sie hatte nichts mit ihm zu tun; es war eine fremde, selbständige Gier, die sich in seine Lungen einkrallte. Unbewußt atmete er tief und spürte den Rauch, und gleichzeitig beobachtete er Neubauer. Er verstand einen Augenblick lang nicht, warum er und Bucher nicht mit Wiese weggeschickt worden waren; aber dann wußte er es. Es gab nur eine Erklärung. Sie hatten einem SS-Offizier nicht gehorcht und würden dafür im Lager bestraft werden. Die Strafe war vorauszusehen – man hatte Leute aufgehängt, nur weil sie einem Kapo nicht gehorcht hatten. Es war falsch gewesen, nicht zu unterschreiben, fühlte er plötzlich. Mit Wiese hätten sie vielleicht noch eine Chance gehabt. Jetzt waren sie verloren.
Eine würgende Reue quoll in ihm auf. Sie preßte seinen Magen, sie stand hinter seinen Augen, und scharf und unerklärlich spürte er gleichzeitig die rasende Gier nach dem Tabaksrauch.
Neubauer betrachtete die Nummer auf der Brust von 509. Es war eine niedrige Nummer.»Wie lange bist du schon hier?«fragte er.
»Zehn Jahre, Herr Obersturmbannführer.«
Zehn Jahre. Neubauer hatte gar nicht gewußt, daß noch Häftlinge vom Anfang her da waren.
Eigentlich ein Zeichen für meine Milde, dachte er. Es gibt sicher nicht viele Lager, die so etwas haben. Er zog an seiner Zigarre. So etwas konnte sogar einmal ganz nützlich sein. Man wußte nie, was kam.
Weber kam herein. Neubauer nahm seine Zigarre aus dem Mund und stieß auf. Er hatte Schlackwurst und Rühreier zum Frühstück gehabt – eine seiner Lieblingsspeisen.
»Obersturmführer Weber«, sagte er.»Dies hier war nicht befohlen.«
Weber blickte ihn an. Er wartete auf den Witz. Der Witz kam nicht.»Wir werden sie heute abend beim Appell hängen«, sagte er schließlich.
Neubauer rülpste noch einmal.»Es war nicht befohlen«, wiederholte er.
»Übrigens, weshalb machen Sie so etwas selbst?«
Weber antwortete nicht gleich. Er begriff nicht, daß Neubauer wegen solcher Kleinigkeiten überhaupt ein Wort verschenkte.»Dafür gibt es doch genug Leute«, sagte Neubauer. Weber war in der letzten Zeit ziemlich selbständig geworden. Es schadete nichts, wenn auch er einmal merkte, wer hier Befehle gab.»Was ist los mit Ihnen, Weber? Nerven durchgegangen?«
»Nein.«
Neubauer wandte sich wieder 509 und Bucher zu. Hängen, hatte Weber gesagt.
Eigentlich richtig. Aber wozu? Der Tag hatte sich besser gestaltet, als zu vermuten war. Und es war außerdem ganz gut, Weber zu zeigen, daß nicht alles so geschehen mußte, wie er dachte.»Es war keine direkte Befehlsverweigerung«, erklärte er.»Ich hatte freiwillige Meldungen angeordnet. Dies hier sieht nicht so aus. Geben Sie den Leuten zwei Tage Bunker, weiter nichts. Weiter nichts, Weber, verstehen Sie? Ich möchte, daß meine Befehle befolgt werden.«
»Jawohl.«
Neubauer ging. Er fühlte sich überlegen und zufrieden. Weber blickte ihm verächtlich nach.
Nerven, dachte er. Wer hat hier Nerven? Und wer wird hier weich? Zwei Tage Bunker! Ärgerlich drehte er sich um. Ein Streifen Sonne fiel über das zerschlagene Gesicht von 509. Weber sah ihn genauer an.»Dich kenne ich doch? Woher?«
»Ich weiß es nicht, Herr Obersturmführer.«509 wußte es genau. Er hoffte, daß Weber sich nicht erinnern würde.
»Irgendwoher kenne ich dich. Woher hast du die Verletzungen?«
»Ich bin gefallen, Herr Obersturmführer.«509 atmete auf. Dies war schon wieder die alte Routine.
Ein Witz noch aus Den Anfangszeiten. Niemand durfte jemals zugeben, geschlagen worden zu sein.
Weber sah ihn noch einmal an.»Irgendwoher kenne ich die Fresse«, murmelte er.
Dann öffnete er die Tür.»Schafft die beiden hier in den Bunker. Zwei Tage.«Er wendete sich wieder zu 509 und Bucher.»Glaubt nur nicht, daß ihr entwischt seid, ihr Dreckfinken! Ich hänge euch noch!«
Man schleppte sie hinaus. 509 schloß die Augen vor Schmerzen. Dann spürte er die Luft draußen.
Er öffnete die Augen wieder. Da war der Himmel. Blau und endlos. Er drehte den Kopf zu Bucher hinüber und sah ihn an. Sie waren entkommen. Soweit wenigstens. Es war schwer zu glauben.
VII
Sie fielen aus den Bunkern, als der Scharführer Breuer zwei Tage später die Türen öffnen ließ.
Beide waren die letzten dreißig Stunden von Halbbewußtlosigkeit in Bewußtlosigkeit getaumelt.
Am ersten Tage hatten sie sich noch ab und zu durch Klopfen verständigen können; dann nicht mehr.
Man trug sie hinaus. Sie lagen auf dem Tanzplatz neben der Mauer, die das Krematorium umgab.
Hunderte von Menschen sahen sie; keiner rührte sie an. Keiner brachte sie fort. Keiner tat, als sehe er sie. Es war kein Befehl gegeben worden, was mit ihnen geschehen solle; deshalb existierten sie nicht. Wer sie angerührt hätte, wäre selbst in den Bunker gekommen.
Zwei Stunden später wurden die letzten Toten des Tages zum Krematorium gebracht.
»Was ist mit diesen?«fragte der SS-Mann, der Aufsicht hatte, träge»Kommen die mit 'rein?«
»Es sind zwei aus dem Bunker.«
»Sind sie abgekratzt?«
»Es sieht so aus.«
Der SS-Mann sah, daß die Hand von 509 sich langsam zur Faust schloß und wieder öffnete.
»Noch nicht ganz«, sagte er. Sein Rücken schmerzte ihn. Die letzte Nacht mit Fritzi in der»Fledermaus«war eine verfluchte Tour gewesen. Er schloß die Augen. Er hatte gewonnen gegen Hoffmann. Hoffmann mit Wilma. Eine Flasche Hennessy.
Guter Kognak. Aber er war ausgepumpt.»Fragt im Bunker oder in der Schreibstube nach, wohin sie gehören«, sagte er zu einem der Leichenträger.
Der Mann kam zurück. Mit ihm kam eilig der rothaarige Schreiber.»Diese beiden sind aus dem Bunker entlassen«, meldete er.»Sie gehören ins Kleine Lager. Sollten schon heute mittag entlassen werden. Befehl der Kommandantur.«
»Dann schafft sie hier weg.«Der SS-Mann sah faul auf seine Liste.»Ich habe achtunddreißig Abgänge.«Er zählte die Leichen, die in Reih und Glied vor dem Eingang lagen.»Achtunddreißig.
Richtig. Weg mit denen hier, sonst gibt es wieder neues Durcheinander.«
»Vier Mann! Bringt die beiden ins Kleine Lager!«rief der Leichenkapo.
Vier Leute griffen zu.»Hier herüber«, flüsterte der rothaarige Schreiber.»Rasch! Von den Toten weg. Hier herüber!«
»Die sind doch schon so gut wie hin«, sagte einer der Träger.
»Halt die Schnauze! Los!«
Sie trugen 509 und Bucher von der Mauer weg. Der Schreiber beugte sich l über sie und horchte.
»Sie sind nicht tot. Holt Bahren! Rasch!«
Er sah sich um. Er fürchtete, daß Weber kommen, sich erinnern und die beiden hängen lassen würde. Er blieb stehen, bis die Leute mit den Bahren kamen. Es waren roh gezimmerte Bretter, auf denen gewöhnlich Leichen transportiert wurden.
»Packt sie auf! Schnell!«
Der Platz um das Tor und das Krematorium herum war immer gefährlich.
SS-Leute trieben sich dort herum, und der Scharführer Breuer war in der Nähe. Er ließ ungern jemand lebend aus dem Bunker entkommen. Der Befehl Neubauers war mit der Entlassung ausgeführt und erledigt, und 509 und Bucher waren jetzt wieder Freiwild. Jeder konnte seine Laune an ihnen austoben – von Weber ganz zu schweigen, dessen Ehre es fast erfordert hätte, sie erledigen zu lassen, hätte er gewußt, daß sie noch lebten.
»Was für ein Unsinn!«sagte einer der Träger mißmutig.»Da schleppen wir die hier den ganzen Weg ins Kleine Lager, und morgen früh müssen sie bestimmt wieder zurückgebracht werden. Die halten nicht einmal mehr ein paar Stunden durch.«
»Was geht das dich an, du Idiot?«Der rothaarige Schreiber fauchte plötzlich vor Wut.
»Pack an! Vorwärts! Ist kein vernünftiger Mensch zwischen euch?«
»Hier«, sagte ein älterer Mann, der die Bahre, auf der 509 lag, anhob.»Was ist mit ihnen los?
Irgend etwas Besonderes?«
»Es sind zwei von Baracke 22.«Der Schreiber sah sich um und trat dicht an den Träger heran.
»Es sind die beiden, die sich vor zwei Tagen geweigert haben zu unterschreiben.«
»Was zu unterschreiben?«
»Die Erklärung für den Meerschweinchendoktor. Die anderen vier hat er mitgenommen.«
»Was? Und die hier werden nicht gehenkt?«
»Nein.«Der Schreiber ging noch einige Schritte neben den Bahren her.»Sie sollen zurück zu den Baracken. Das war der Befehl. Macht deshalb rasch, bevor jemand dazwischenkommt.«
»Ach so. Verstehe!«
Der Träger schritt plötzlich so kräftig aus, daß er dem vorderen Mann die Bahre in die Kniekehle stieß.»Was ist los?«fragte der ärgerlich.»Bist du verrückt geworden?«