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»Scharf?«

»Nein. Gemein. Aber er weiß wenig von uns. Hat auch Angst, sich mit irgend etwas anzustecken.

Kennt nur ein paar von uns. Die Gesichter wechseln zu schnell. Der Blockführer weiß noch weniger. Die Kontrolle liegt bei den Stuben» ältesten. Man kann hier allerlei machen. Das wolltest du doch wissen, wie?«

»Ja, das wollte ich wissen. Du hast mich verstanden.«Lewinsky blickte überrascht auf das rote Dreieck auf dem Kittel von 509. Er hatte nicht so viel erwartet.

»Kommunist?«fragte er.

509 schüttelte den Kopf.

» Sozialdemokrat?«

»Nein.«

»Was denn? Irgendwas mußt du doch sein.«509 blickte auf. Die Haut um seine Augen war noch verfärbt von den Blutergüssen.

Die Augen wurden dadurch heller; sie glänzten fast durchsichtig im Licht des Feuers, als gehörten sie nicht zu dem dunklen, demolierten Gesicht.»Ein Stück Mensch – wenn dir das genügt.«

»Was?«

»Schon gut. Nichts.«

Lewinsky hatte einen Augenblick gestutzt.»Ach so, ein Idealist«, sagte er dann mit einer Spur gutmütiger Verachtung.»Na, meinetwegen, wie du willst. Wenn wir uns nur auf euch verlassen können.«

»Das könnt ihr. Auf unsere Gruppe. Die, die drüben sitzen. Sie sind am längsten hier.«509 verzog die Lippen.»Veteranen.«

»Und die anderen?«

»Die sind ebenso sicher. Muselmänner. Sicher wie Tote. Streiten nur noch um etwas Fraß und die Möglichkeit, im Liegen zu sterben. Keine Kraft mehr zum Verrat.«

Lewinsky sah 509 an.»Man könnte also jemand für einige Zeit bei euch verstecken, wie? Es würde nicht auffallen? Wenigstens nicht für ein paar Tage?«

»Nein. Wenn er nicht zu fett ist.«

Lewinsky überhörte die Ironie. Er rückte näher heran.»Irgendwas liegt bei uns in der Luft. In verschiedenen Baracken sind die roten Blockältesten durch grüne ersetzt worden. Es wird geredet über Nacht- und Nebeltransporte. Du weißt, was das ist -«

»Ja. Transporte zu den Vernichtungslagern.«

»Richtig. Es wird auch über Massenliquidationen gemunkelt. Leute, die aus anderen Lagern kommen, haben die Nachricht mitgebracht. Wir müssen vorsorgen. Unsere Verteidigung organisieren. Die SS zieht nicht einfach so ab. Bis jetzt haben wir an euch dabei nicht gedacht -«

»Ihr habt geglaubt, wir krepieren hier wie halbtote Fische, was?«

»Ja. Aber jetzt nicht mehr. Wir können euch brauchen. Wichtige Leute für eine Zeitlang verschwinden zu lassen, wenn es scharf drüben wird.«

»Ist das Lazarett nicht mehr sicher.«

Lewinsky blickte wieder auf.»So, das weißt du auch?«

»ja, das weiß ich noch.«

»Warst du drüben bei uns in der Bewegung?«

»Das ist egal«, sagte 509.»Wie ist es jetzt?«

»Das Lazarett«, erwiderte Lewinsky in einem anderen Ton als vorher,»ist nicht mehr so wie früher. Wir haben noch einige von unseren Leuten drin; aber es wird da seit einiger Zeit scharf aufgepaßt.«

»Wie ist es mit der Fleckfieber- und Typhus-Abteilung?«

»Die haben wir noch. Aber das ist nicht genug. Wir brauchen andere Gelegenheiten, um Leute zu verstecken. In unserer eigenen Baracke können wir es immer nur für ein paar Tage tun. Wir müssen auch immer mit überraschenden SS-Kontrollen nachts rechnen.«

»Ich verstehe«, sagte 509.»Ihr braucht einen Platz wie hier, wo alles rasch wechselt und wo wenig kontrolliert wird.«

»Genau. Und wo ein paar Leute die Kontrolle haben, auf die wir uns verlassen können.«

»Das habt ihr bei uns.«

Ich preise das Kleine Lager an wie einen Bäckerladen, dachte 509, und sagte:»Was war das mit Berger, wonach ihr euch erkundigt habt?«

»Das war sein Dienst im Krematorium. Wir haben dort niemand. Er könnt uns auf dem laufenden halten.«

»Das kann er. Er zieht im Krematorium Zähne aus und unterschreibt Totenscheine oder so etwas.

Er ist dort seit zwei Monaten. Der frühere Häftlingsarzt ist beim letzten Wechsel mit der Verbrennungsbrigade auf einen Nacht- und Nebeltransport abgeschoben worden. Dann war da für ein paar Tage ein Zahnklempner, der gestorben ist. Danach haben sie Berger geholt.«

Lewinsky nickte.»Dann hat er noch zwei bis drei Monate. Das ist schon genug fürs erste.«

»Ja, das ist genug.«509 hob sein grünes und blaues Gesicht. Er wußte, daß die Leute, die zum Krematoriumsdienst gehörten, alle vier bis fünf Monate abgelöst und abtransportiert wurden, um in einem Vernichtungslager vergast zu werden. Es war die einfachste Art, Zeugen loszuwerden, die zu viel gesehen hatten. Berger hatte deshalb wahrscheinlich nicht länger als höchstens noch ein Vierteljahr zu leben. Aber ein Vierteljahr war lang. Vieles konnte geschehen. Besonders mit der Hilfe des Arbeitslagers.»Und was können wir von euch erwarten, Lewinsky?«fragte 509.

»Dasselbe wie wir von euch.«

»Das ist nicht so wichtig für uns. Wir brauchen vorläufig niemand zu verstecken. Fraß ist, was wir brauchen. Fraß.«

Lewinsky schwieg eine Weile.»Wir können nicht eure ganze Baracke versorgen«, sagte er dann.

»Das weißt du!«

»Davon redet auch keiner. Wir sind ein Dutzend Leute. Die Muselmänner sind ohnehin nicht zu retten.«

»Wir haben selbst zu wenig. Sonst kämen nicht täglich Neue hierher.«

»Das weiß ich auch. Ich rede nicht von Sattwerden; wir wollen nur nicht verhungern.«

»Wir brauchen das, was wir erübrigen, für die, die wir bei uns jetzt schon verstecken. Für die kriegen wir ja keine Rationen. Aber wir werden für euch tun, was wir können. Ist das genug?«509 dachte, daß es genug und auch so gut wie nichts sei. Ein Versprechen – aber er konnte nichts verlangen, bevor die Baracke nicht eine Gegenleistung gemacht hatte.

»Es ist genug«, sagte er.

»Gut. Dann laß uns jetzt noch mit Berger sprechen. Er kann euer Verbindungsmann sein. Er darf ja in unser Lager. Das ist am einfachsten. Die anderen von euch kannst du dann übernehmen. Besser, wenn so wenige wie möglich etwas von mir wissen. Immer nur ein einziger Verbindungsmann von Gruppe zu Gruppe. Und ein Ersatzmann. Alte Grundregel, die du kennst, wie?«

Lewinsky sah 509 scharf an.»Die ich kenne«, erwiderte 509.

Lewinsky kroch fort durch das rote Dunkel, hinter die Baracke, der Latrine und dem Ausgang zu.

509 tastete sich zurück. Er war plötzlich sehr müde. Ihm war, als habe er tagelang gesprochen und angestrengt nachgedacht. Er hatte, seit er zurück aus dem Bunker war, alles auf diese Besprechung gesetzt. Sein Kopf schwamm. Die Stadt unten glühte wie eine riesige Esse. Er kroch zu Berger hinüber.»Ephraim«, sagte er.

»Ich glaube, wir sind 'raus.«

Ahasver kam herangetappt.»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ja, Alter. Sie wollen uns helfen. Und wir ihnen.«

»Wir ihnen?«

»Ja«, sagte 509 und richtete sich auf. Sein Kopf schwamm nicht mehr.»Wir ihnen auch. Nichts ist für nichts.«

Etwas wie ein unsinniger Stolz war in seiner Stimme. Sie bekamen nichts geschenkt; sie gaben etwas zurück. Sie waren noch zu etwas nütze. Sie konnten sogar dem Großen Lager helfen. In ihrer körperlichen Armseligkeit hätte ein scharfer Wind sie umblasen können, so schwach waren sie – aber sie fühlten das in diesem Augenblick nicht.»Wir sind 'raus«, sagte 509.»Wir haben wiederAnschluß. Wir sind nicht mehr abgesperrt. Die Quarantäne ist durchbrochen.«Es war, als hätte er gesagt: wir sind nicht mehr zum Tode verurteilt; wir haben eine kleine Chance. Es war der ganze riesenhafte Unterschied zwischen Verzweiflung und Hoffnung.»Wir müssen jetzt immer daran denken«, sagte er.»Wir müssen es fressen. Wie Brot. Wie Fleisch. Es geht zu Ende. Es ist sicher. Und wir kommen 'raus. Früher hätte uns das kaputt gemacht. Es war zu weit weg. Es gab zu viele Enttäuschungen. Das ist vorbei. Jetzt ist es da. Jetzt muß es uns helfen. Wir müssen es fressen mit unseren Gehirnen. Es ist wie Fleisch.«»Hat er keine Nachrichten mitgebracht?«fragte Lebenthal.»Stück Zeitung oder so was?«»Nein. Alles ist verboten. Aber sie haben ein geheimes Radio gebaut. Aus Abfällen und gestohlenen Teilen. In ein paar Tagen wird es funktionieren. Kann sein, daß sie es hier verstecken. Dann werden wir wissen, was vorgeht.«509 nahm zwei Stücke Brot aus der Tasche; Lewinsky hatte sie dagelassen. Er gab sie Berger.»Hier, Ephraim. Verteile sie. Er will mehr bringen.«Jeder nahm sein Stück. Sie aßen es langsam. Tief unten glühte die Stadt. Hinter ihnen lagen die Toten. Die kleine Gruppe hockte schweigend beieinander und aß das Brot, und es schmeckte anders als alles Brot vorher. Es war wie eine sonderbare Kommunion, die sie unterschied von den anderen in der Baracke. Von den Muselmännern. Sie hatten den Kampf aufgenommen. Sie hatten Kameraden gefunden. Sie hatten ein Ziel. Sie blickten auf die Felder und die Berge und die Stadt und die Nacht – und keiner sah in diesem Augenblick den Stacheldraht und die Maschinengewehrtürme. Neubauer nahm das Papier, das auf seinem Schreibtisch lag, wieder auf. Einfach für die Brüder, dachte er. Eine dieser Gummiverordnungen, aus denen man alles mögliche machen konnte – las sich harmlos, war aber ganz anders gemeint. Eine Aufstellung der wichtigeren politischen Gefangenen sollte gemacht werden, falls noch welche in den Lagern seien, war hinzugefügt worden. Das war der Dreh. Man verstand den Wink. Die Konferenz mit Dietz heute morgen war dazu gar nicht mehr nötig gewesen. Dietz hatte leicht reden. Erledigen Sie, was gefährlich ist, hatte er erklärt, wir können in diesen schweren Zeiten nicht ausgeprägte Vaterlandsfeinde im Rücken haben und sie sogar noch füttern. Reden war immer leicht; aber irgend jemand mußte es dann tun. Das war eine aridere Sache. Dinge solcher Art sollte man ganz genau schriftlich haben. Dietz hatte nichts Schriftliches hergegeben – und diese verdammte Antrage hier war kein wirklicher Befehl; sie ließ einem die ganze Verantwortlichkeit.