»Es wäre wieder die Sache mit den Körpern gewesen«, erwiderte Weber geduldig.»Es heißt, daß die amerikanische Armee eine Unmenge Journalisten und Fotografen bei sich hat. Man hätte Aufnahmen machen und behaupten können, die Leute seien unterernährt gewesen.«
Neubauer nahm die Zigarre aus dem Munde und blickte Weber scharf an. Er konnte nicht sehen, ob sein Lagerführer sich wieder einmal über ihn lustig machte. Er hatte das nie herausfinden können, sooft er es auch versucht hatte. Weber zeigte sein übliches Gesicht.»Was soll das heißen?«fragte Neubauer.»Was meinen Sie damit? Natürlich sind sie unterernährt.«
»Es sind die Greuelmärchen, die die ausländische Presse darüber erfindet. Das Propagandaministerium warnt täglich davor.«
Neubauer blickte Weber immer noch an. Eigentlich kenne ich ihn überhaupt nicht, dachte er. Er hat immer getan, was ich wollte, aber ich kenne im Grunde nichts von ihm. Ich würde mich nicht wundern, wenn er mir plötzlich ins Gesicht lachen würde.
Mir und sogar vielleicht dem Führer selbst. Ein Landsknecht, ohne wirkliche Weltanschauung!
Wahrscheinlich ist ihm nichts heilig; auch nicht die Partei. Sie paßt ihm nur gerade so.»Wissen Sie, Weber -«, begann er und brach dann ab. Es hatte keinen Zweck, große Geschichten zu machen.
Einen Augenblick war wieder die jähe Angst da.»Natürlich sind die Leute unter» ernährt«, sagte er.»Aber das ist nicht unsere Schuld. Der Gegner mit seiner Blockade zwingt uns ja dazu. Oder nicht?«
Weber hob den Kopf. Er traute seinen Ohren nicht. Neubauer sah ihn sonderbar gespannt an.
»Selbstverständlich«, sagte Weber gemächlich.»Der Gegner mit seiner Blockade.«
Neubauer nickte. Die Angst war wieder verflogen. Er blickte über den Appellplatz.
»Offen gestanden«, sagte er fast vertraulich.»Es ist trotzdem doch noch ein mächtiger Unterschied in den Lagern. Unsere Leute sehen bedeutend besser aus als die dort – selbst im Kleinen Lager.
Finden Sie nicht?«
»Ja«, erwiderte Weber perplex.
»Man sieht es, wenn man vergleicht. Wir sind sicher eines der humansten Lager im ganzen Reich.«
Neubauer hatte ein Gefühl behaglicher Erleichterung»Natürlich sterben Leute. Viele sogar. Das ist unvermeidlich in solchen Zeiten Aber wir sind menschlich. Wer nicht mehr kann, braucht bei uns nicht zu arbeiten. Wo gibt es das sonst für Verräter und Staatsfeinde?«
»Fast nirgendwo.«
»Das meine ich auch. Unterernährung? Das ist nicht unsere Schuld! Ich sage Ihnen, Weber -«
Neubauer hatte plötzlich einen Gedanken.»Hören Sie, ich weiß, wie wir die Leute hier herauskriegen. Wissen Sie, wie? Mit Essen!«
Weber grinste. Der Alte war manchmal doch nicht nur in den Wolken seiner eigenen Wunschbilder.»Ausgezeichnete Idee«, erklärte er.»Wenn Knüppel nicht helfen – Essen hilft immer. Aber wir haben keine Extrarationen parat.«»Schön, dann müssen die Lagerinsassen mal verzichten. Etwas Kameradschaft zeigen. Kriegen mal weniger zu Mittag.«Neubauer reckte seine Schultern.»Verstehen die hier Deutsch?«»Ein paar vielleicht.«»Ist ein Dolmetscher da?«
Weber fragte einige der Leute, die Wache gehabt hatten. Sie brachten drei Gestalten heran.
»Übersetzt euren Leuten, was der Herr Obersturmbannführer sagt!«schnauzte Weber.
Die drei Leute standen nebeneinander. Neubauer trat einen Schritt vor.»Leute!«sagte er mit Würde.»Ihr seid falsch unterrichtet. Ihr sollt in ein Erholungslager geführt werden.«
»Los!«Weber stieß einen der drei an. Sie redeten etwas in unverständlichen Lauten.
Niemand auf dem Platz rührte sich.
Neubauer wiederholte die Worte.»Ihr geht jetzt zur Küche«, fügte er hinzu.»Kaffee und Essen empfangen!«
Die Dolmetscher riefen es nach. Niemand rührte sich. Keiner glaubte so etwas. Jeder hatte schon oft Menschen auf ähnliche Weise verschwinden sehen. Essen und Baden waren gefährliche Versprechen.
Neubauer wurde ärgerlich.»Küche! Abmarsch zur Küche! Essen! Kaffee! Essen und Kaffee empfangen! Suppe!«
Die Wachen stürzten sich mit ihren Knüppeln auf die Menge.»Suppe! Hört ihr nicht?
Essen! Suppe!«Sie prügelten bei jedem Wort.
»Halt!«schrie Neubauer ärgerlich.»Wer hat euch befohlen, zu prügeln? Verdammt!«
Die Aufseher sprangen zurück,»'raus mit euch!«schrie Neubauer.
Aus den Leuten mit Knüppeln wurden plötzlich wieder Häftlinge. Sie schlichen am Rande des Platzes dahin und drückten sich einer hinter den anderen.
»Die schlagen sie ja zu Krüppeln«, knurrte Neubauer.»Dann haben wir sie auf dem Halse.«
Weber nickte.»Wir haben beim Ausladen am Bahnhof ohnehin schon ein paar Lastwagen Toter hierher geschickt gekriegt zum Verbrennen.«
»Wo sind denn die?«
»Aufgestapelt am Krematorium. Dabei haben wir Kohlenknappheit. Unseren Vorrat brauchen wir für unsere eigenen Leute notwendig genug.«
»Verdammt, wie kriegen wir die hier nur weg?«
»Die Leute sind in einer Panik. Sie verstehen nicht mehr, was ihnen gesagt wird.
Vielleicht aber, wenn sie es – riechen.«
»Riechen?«
»Das Essen riechen. Riechen oder sehen.«
»Sie meinen, wenn wir einen Kessel hierherbringen?«
»Jawohl. Versprechen nützt bei diesen Leuten nichts. Sie müssen es sehen und riechen.«
Neubauer nickte.»Möglich. Wir haben doch kürzlich eine Anzahl fahrbarer Kessel bekommen.
Lassen Sie einen davon holen. Oder zwei. Einen mit Kaffee. Ist schon Essen da?«
»Noch nicht. Aber ein Kessel voll wird wohl aufzutreiben sein. Von gestern abend, denke ich.«
Die Kessel waren angefahren. Sie standen etwa zweihundert Meter entfernt von der Menge auf der Straße.»Fahrt einen ins Kleine Lager«, kommandierte Weber.»Und nehmt den Deckel ab. Dann, wenn sie kommen, fahrt ihn langsam wieder hierher zurück.«
»Wir müssen sie in Bewegung bringen«, sagte er zu Neubauer.»Wenn sie erst einmal den Appellplatz verlassen haben, ist es leicht, sie 'rauszukriegen. Es ist immer so. Da, wo sie geschlafen haben, wollen sie bleiben, weil ihnen da nichts passiert ist. Das ist für sie eine Art Sicherheit. Alles andere fürchten sie. Wenn sie aber erst wieder in Bewegung sind, gehen sie auch weiter. Fahrt vorläufig einmal nur den Kaffee heran«, kommandierte er.»Und fahrt ihn nicht zurück. Gebt ihn aus! Verteilt ihn drüben.«
Der Kaffeekessel wurde bis in die Menge geschoben. Einer der Kapos schöpfte mit der Kelle heraus und goß die Brühe dem nächsten Mann über den Kopf. Es war der Alte mit dem blutigen weißen Bart. Die Flüssigkeit lief ihm über das Gesicht und färbte den Bart jetzt braun. Es war die dritte Veränderung.
Der Alte hob den Kopf und leckte die Tropfen ab. Seine klauenartigen Hände fuhren umher. Der Kapo hielt ihm die Kelle mit dem Rest an den Mund»Sauf! Kaffee!«
Der Alte öffnete den Mund. Seine Halsstränge begannen plötzlich zu arbeiten. Die Hände schlössen sich um die Kelle, und er schluckte, schluckte, er war nur noch Schlucken und Schlürfen, sein Gesicht zuckte, er zitterte und schluckte.
Sein Nachbar sah es. Ein zweiter, dritter. Sie hoben sich, schoben die Münder, die Hände heran, stießen sich, rissen sich um die Kelle, hingen daran, ein Haufen von Armen und Köpfen.
»He! Verdammt!«
Der Kapo konnte die Kelle nicht loskriegen. Er zerrte und trat mit den l Füßen, vorsichtig nach hinten schielend, wo Neubauer stand. Andere hatten sich inzwischen aufgerichtet und über den heißen Kessel gebeugt. Sie versuchten die Gesichter in den Kaffee zu hängen und mit den dünnen Händen zu schöpfen.»Kaffee! Kaffee!«
Der Kapo fühlte, daß seine Kelle frei war.»Ordnung!«schrie er.»Einer nach dem anderen!
Antreten hintereinander!«
Es nützte nichts. Die Menge war nicht zu halten. Sie hörte nichts. Sie roch das, was sich Kaffee nannte, irgend etwas Warmes, das man trinken konnte, und stürmte blind den Kessel. Weber hatte recht gehabt: da, wo das Gehirn nicht mehr registrierte, war der Magen immer noch Herrscher.
Zieht den Wagen jetzt langsam 'rüber«, kommandierte Weber. Es war unmöglich. Die Menge war rundherum. Einer der Aufseher machte ein erstauntes Gesicht und fiel langsam um. Die Menge hatte ihm die Beine in Boden gerissen. Er schlug um sich wie ein Schwimmer und rutschte runter.
»Keil formieren!«kommandierte Weber. Die Wachen und die Lagerpolizei stellten sich auf.
»Los!«schrie Weber.
»Auf den Kaffeewagen. Zieht ihn 'raus!«
Die Wachen brachen in die Menge ein. Sie rissen die Leute beiseite. Es gelang ihnen, einen Kordon um den Wagen zu formen und ihn zu bewegen. Er war schon fast leer.
Sie schoben ihn, Schulter an Schulter um ihn formiert, heraus. Die Menge folgte.
Hände versuchten über die Schultern und unter die Arme zu gelangen.