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Plötzlich sah einer aus dem stöhnenden Haufen den zweiten, entfernter stehenden Wagen. Er lief, in grotesken Sätzen schwankend, drauflos. Andere folgten ihm. Aber hier hatte Weber vorgesorgt; er war umringt von kräftigen Leuten und setzte sich sofort in Bewegung.

Die Menge stürzte hinterher. Nur ein paar blieben und strichen die Hände über die Wände des Kaffeekessels, um die Feuchtigkeit abzulecken. Ungefähr dreißig blieben zurück, die nicht mehr aufstehen konnten.

»Schleppt sie hinterher«, kommandierte Weber.»Und schließt dann eine Kette über die Straße, damit sie nicht hierher zurückkommen können.«

Der Platz war voll von menschlichem Schmutz; aber er war eine Nacht Ruheplatz gewesen. Das war viel. Weber hatte Erfahrung. Er wußte, daß die Menge, wie das Wasser zum tiefsten Punkte, versuchen würde, hierher zurückzukommen, wenn die Raserei des Hungers vorüber war.

Die Wachen trieben die Zurückgebliebenen vorwärts. Sie schleppten gleichzeitig die Sterbenden und Toten. Es waren nur sieben Tote. Der Transport hatte aus den zartesten letzten fünfhundert bestanden.

Am Ausgang des Kleinen Lagers zur Straße brachen einige Leute aus. Die Wachen mit den Sterbenden und Toten konnten nicht rasch genug folgen. Drei der kräftigsten Leute flohen zurück.

Sie rannten zu den Baracken und rissen an den Türen. Die von 22 gab nach. Sie krochen hinein.

»Halt!«schrie Weber, als die Wachen folgen wollten.»Alles hierher! Die drei holen wir später.

Aufpassen! Die anderen kommen zurück.«

Der Schwarm kam die Straße herunter. Der Kessel mit Essen war leer geworden, und als man die Gruppen zum Abmarsch formieren wollte, waren sie umgekehrt. Aber sie waren jetzt nicht mehr dieselben wie vorher. Vorher waren sie ein einziger Block gewesen, jenseits von Verzweiflung, und das hatte ihnen eine stumpfe Kraft gegeben.

Jetzt waren sie durch Hunger und Essen und Bewegung zurückgeworfen in die Verzweiflung – die Angst flatterte in ihnen wieder und machte sie wild und schwach, sie waren keine Masse mehr, sondern viele einzelne, jeder mit seinem eigenen Lebensrest, und das machte sie zu einer leichten Beute. Dazu kam, daß sie nicht mehr eng zusammenhockten.

Sie hatten keine Macht mehr. Sie fühlten wieder Hunger und Schmerz. Sie begannen zu gehorchen.

Ein Teil von ihnen war weiter oben abgeschnitten worden; ein anderer auf dem Wege zurück; den Rest empfing Weber mit seinen Leuten. Sie schlugen nicht auf die Köpfe; nur auf die Körper.

Langsam formierten sich Gruppen. Betäubt standen sie in Reihen zu vieren, die Arme ineinander verschränkt, damit sie nicht fielen. Zwischen die Stärkeren wurde immer ein Sterbender eingehakt.

Von weitem konnte es für jemand, der nichts davon wußte, aussehen, als taumele dort Arm in Arm eine Schar lustiger Betrunkener. Dann plötzlich fingen einige an zu singen. Sie starrten vor sich hin und hoben die Köpfe und hielten die anderen fest und sangen. Es waren nicht viele, und der Gesang war dünn und abgerissen. Sie gingen über den großen Appellplatz an den aufgestellten Arbeitsformationen vorbei hinaus durchs Tor.

»Was ist das, was sie singen?«fragte Werner.

»Ein Lied für Tote.«

Die drei Geflüchteten kauerten in Baracke 22. Sie hatten sich so weit durchgedrängt, wie sie konnten. Zwei lagen halb unter einem Bett. Sie hatten die Köpfe weit darunter gesteckt. Die Beine ragten heraus und zitterten. Das Zittern lief über sie, hörte einen Augenblick auf und begann wieder.

Der dritte starrte mit weißem Gesicht auf die Häftlinge.»Verstecken – Mensch – Mensch -«Er wiederholte es immer wieder und stieß sich mit dem Zeigefinger vor die Brust. Es war das einzige Deutsch, das er kannte.

Weber riß die Tür auf.»Wo sind sie?«

Er stand mit zwei Wachen im Rahmen.»Wird's bald? Wo sind sie?«

Niemand antwortete.»Stubenältester!«schrie Weber.

Berger trat vor.»Baracke 22, Sektion -«begann er zu melden.

»Schnauze! Wo sind sie?«

Berger hatte keine Wahl. Er wußte, daß die Flüchtlinge in wenigen Augenblicken gefunden werden mußten. Er wußte auch, daß die Baracke auf keinen Fall durchsucht werden durfte. Zwei politische Flüchtlinge vom Arbeitslager waren darin versteckt.

Er hob den Arm, um in die Ecke zu zeigen, aber einer der Aufseher, der an ihm vorbeiblickte, kam ihm zuvor.»Da sind sie! Unter dem Bett!«

»Holt sie 'raus!«

Ein Schuffeln begann in dem vollen Raum. Die beiden Wachen rissen die Flüchtlinge wie Frösche an beiden Beinen unter dem Bett hervor. Die Gefangenen krallten ihre Hände um die Pfosten. Sie schwangen in der Luft. Weber trat auf ihre Finger. Es knackte, und die Hände gaben nach. Die beiden wurden herausgezerrt. Sie schrieen nicht. Sie stießen nur ein leises, sehr hohes Stöhnen aus, als sie über den dreckigen Boden geschleift wurden. Der dritte, mit dem weißen Gesicht, stand von selbst auf und folgte ihnen. Seine Augen waren große schwarze Löcher. Er blickte die Häftlinge an, an denen er vorbeiging. Sie wandten die Augen ab.

Weber stand breitbeinig vor dem Eingang.»Wer von euch Schweinen hat die Tür aufgemacht?«

Niemand meldete sich,»'raustreten!«

Sie kamen heraus. Handke stand schon draußen.»Blockältester!«schnauzte Weber.

»Es war befohlen, die Türen zu schließen! Wer hat sie geöffnet?«

»Die Türen sind alt. Die Flüchtlinge haben das Schloß losgerissen, Herr Sturmführer.«

»Quatsch! Wie können sie das?«Weber bückte sich über das Schloß. Es hing lose in dem verrotteten Holz.»Sofort ein neues Schloß anbringen! Hätte längst gemacht werden sollen! Warum ist das nicht früher getan worden?«

»Die Türen werden nie verschlossen, Herr Sturmführer. Die Leute haben keine Latrine in der Baracke.«

»Einerlei. Sorgen Sie dafür.«Weber drehte sich um und ging die Straße hinauf, hinter den Flüchtlingen her, die sich nicht mehr wehrten.

Handke betrachtete die Sträflinge. Sie erwarteten einen seiner Ausbrüche. Aber es kam keiner.

»Schafsköpfe«, sagte er.»Seht zu, daß ihr den Dreck hier fortkriegt.«

Dann wandte er sich an Berger.»Das hättet ihr wohl nicht gerne gesehen, wenn die Baracke genau untersucht worden wäre, was?«

Berger erwiderte nichts. Er blickte Handke ausdruckslos an. Handke lachte kurz auf.

»Haltet mich für dumm, wie? Ich weiß mehr, als du glaubst. Und Ich kriege euch noch! Alle! Alle euch hochnäsigen politischen Idioten, verstehst du?«

Er stampfte hinter Weber her. Berger drehte sich um. Goldstein stand hinter ihm.

»Was mag er damit meinen?«

Berger hob die Schultern.»Wir müssen auf jeden Fall sofort Lewinsky benachrichtigen. Und die Versteckten heute anderswo unterbringen. Vielleicht geht es in Block 20. 509 weiß da Bescheid.«

XVIII

Der Nebel hing morgens dicht über dem Lager. Die Maschinengewehrtürme und die Palisaden waren nicht zu erkennen. Es schien dadurch eine Zeitlang, als existiere das Konzentrationslager nicht mehr, als habe der Nebel die Umzäunung in eine weiche, trügerische Freiheit aufgelöst und als brauche man nur vorwärts zu gehen, um zu finden, sie seien nicht mehr da. Dann kamen die Sirenen und bald darauf die ersten Explosionen. Sie kamen aus einem weichen Nirgendwo und hatten keine Richtung und keinen Ursprung. Sie hätten ebenso in der Luft oder hinter dem Horizont wie in der Stadt sein können. Sie wurden umhergeworfen wie Donner von vielen gedämpften Gewittern, und es schien in dem Weißgrau der wattigen Unendlichkeit, als sei keine Gefahr in ihnen. Die Bewohner von Baracke 22 hockten müde auf den Betten und in den Gängen. Sie hatten wenig geschlafen und waren elend vor Hunger; am Abend vorher hatte es nur eine dünne Suppe gegeben. Sie achteten kaum auf das Bombardement. Sie kannten auch das nun schon; es war ebenfalls zu einem Teil ihrer Existenz geworden. Keiner war vorbereitet darauf, daß plötzlich das Heulen sich rasend verstärkte und in einer ungeheuren Detonation endete. Die Baracke schwankte wie bei einem Erdbeben. In das hallende Zurück«ebben des Kraches klang das Klirren der zerbrochenen Fensterscheiben.»Sie bombardieren uns! Sie bombardieren uns!«schrie jemand.»Laßt mich 'raus! 'raus hier!«Eine Panik entstand. Leute fielen aus den Betten. Andere versuchten herunter» zuklettern und hingen mit denen, die unten waren, in einem Gewirr von Gliedern zusammen. Kraftlose Arme schlugen um sich, die Gebisse in den Totenschädeln waren gebleckt, und die Augen starrten angstvoll aus den tiefen Höhlen. Das Gespenstische dabei war, daß scheinbar alles lautlos vor sich ging; das Toben der Abwehrgeschütze und der Bomben war jetzt so stark, daß es den Lärm drinnen völlig übertönte. Offene Münder schienen ohne Stimmen zu schreien, als habe die Angst sie stumm gemacht. Eine zweite Explosion schüttelte den Boden. Die Panik verstärkte sich zu Aufruhr und Flucht. Die Leute, die noch gehen konnten, drängten übereinander durch die Gänge; andere lagen völlig teilnahmslos auf den Betten und starrten auf ihre lautlos gestikulierenden Kameraden, als seien sie Zuschauer in einer Pantomime, die sie selbst nichts mehr anging.»Tür zu!«rief Berger. Es war zu spät. Die Tür flog auf, und der erste Haufen Skelette stolperte in den Nebel. Andere folgten. Die Veteranen hockten in ihrer Ecke und hatten Mühe, nicht mit hinausgerissen zu werden.»Hierbleiben!«rief Berger.»Die Wachen werden schießen!«Die Flucht ging weiter.»Hinlegen!«rief Lewinsky. Er hatte die Nacht trotz Handkes Drohungen in Baracke 22 verbracht. Es war ihm immer noch sicherer gewesen; am Tage vorher waren im Arbeitslager vier Leute mit den Anfangsbuchstaben H und K von dem Spezialkommando Steinbrenner, Breuer und Niemann erwischt und zum Krematorium geführt worden. Es war ein Glück, daß die Suche bürokratisch vor sich ging. Lewinsky hatte nicht gewartet, bis der Buchstabe L herankam.»Flach auf den Boden!«rief er.»Sie werden schießen!«»'raus! Wer will hier in der Mausefalle bleiben?«Draußen knatterten bereits Schüsse in das Heulen und Donnern.»Da! Es geht los! Hinlegen! Flach! Die Maschinengewehre sind gefährlicher als die Bomben!«Lewinsky hatte unrecht. Nach der dritten Explosion hörten die' Maschinengewehre auf. Die Wachen hatten die Türme eiligst verlassen. Lewinsky kroch zur Tür hinaus.»Keine Gefahr mehr!«schrie er Berger ins Ohr.»Die SS ist verschwunden.«