Rosen zitterte. Niemann hatte nicht viel abbekommen; nur eine Hautabschürfung im Gesicht.
Berger nahm Rosen am Arm.»Komm. Du bist zu schwach dafür.«
Rosen brach in Tränen aus. Sulzbacher nahm seinen anderen Arm.»Sie werden ihn verurteilen, Rosen. Für alles.«
»Totschlagen! Totgeschlagen müssen sie werden! Sonst hilft alles nichts! Sonst kommen sie immer wieder!«
Sie zogen ihn fort. Der Amerikaner gab Bucher die Schaufel zurück. Sie gingen weiter.
»Komisch«, sagte Lebenthal nach einer Weile.»Und du warst immer der, der keine Rache wollte – «
»Laß ihn, Leo.«
»Ich lasse ihn ja.«
Jeden Tag verließen Gefangene das Lager. Die ausländischen Sklavenarbeiter, die gesund waren und gehen konnten, wurden in Gruppen abtransportiert. Ein Teil der Polen blieb zurück. Sie wollten nicht in die russische Zone. Fast alle vom Kleinen Lager waren zu schwach; sie mußten noch eine Zeitlang verpflegt werden. Und viele wußten nicht, wohin sie sollten. Ihre Angehörigen waren zerstreut und getötet; ihr Besitztum gestohlen; ihre Heimatgegend verwüstet. Sie waren frei; aber sie konnten nichts damit anfangen. Sie blieben im Lager. Sie hatten kein Geld. Sie halfen die Baracken reinigen. Sie bekamen Betten und Essen; sie warteten; sie formten sich zu Gruppen.
Sie waren die, die wußten, daß nichts sie irgendwo mehr erwartete. Dann gab es andere, die es noch nicht glaubten. Sie gingen auf die Suche. Täglich sah man sie den Berg hinunterwandern, einen Ausweis der Zivilverwaltung und der Militärbehörde des Lagers in den Händen, um Eßkarten darauf zu bekommen und ein paar Ungewisse Daten im Herzen.
Es war vieles anders gekommen. Die Aussicht auf Befreiung war etwas so Ungeheures gewesen, daß die meisten nicht darüber hinausgedacht hatten. Jetzt war sie plötzlich da, und dahinter war auf einmal nicht ein Garten Eden mit Wundern, Wiederfinden, Wiedervereinigung und einem zauberhaften Zurückrücken der Jahre in eine Zeit, die ohne Elend war – sie war da, und hinter ihr dehnte sich der Schutt der Einsamkeit, der traurigen Erinnerungen, der Verlorenheit, und vor ihr war eine Wüste und etwas Hoffnung. Sie zogen den Berg hinunter, und die Namen von ein paar Orten, ein paar Menschen, von einigen anderen Lagern, und ein blasses Vielleicht waren alles, auf das sie hofften. Sie hofften, vielleicht einen oder zwei wiederzufinden – alle, das wagte fast keiner.
»Es ist besser, wegzugehen, sobald man kann«, sagte Sulzbacher.»Es wird sich nichts ändern, und je länger man bleibt, um so schwieriger wird es. Ehe wir uns versehen, sitzen wir in einem neuen Lager – für Leute, die nicht wissen, wohin sie sollen.«
»Glaubst du, daß du es aushaken kannst?«
»Ich habe zehn Pfund zugenommen.«
»Das ist nicht genug.«
»Ich werde mich nicht anstrengen.«
»Wohin willst du?«fragte Lebenthal.
»Nach Düsseldorf. Meine Frau suchen -«
»Wie willst du nach Düsseldorf kommen? Gibt es dahin Züge?«
Sulzbacher hob die Schultern.»Ich weiß es nicht. Aber es sind noch zwei hier, die wollen in dieselbe Gegend. Nach Solingen und Duisburg. Wir können zusammenbleiben.«
»Sind es alte Bekannte von dir?«
»Nein. Aber es ist doch schon allerhand, wenn man nicht allein ist.«
»Ja, das ist richtig.«
»Das meine ich auch.«
Er schüttelte den anderen die Hände.»Hast du zu essen?«fragte Lebenthal.
»Für zwei Tage. Wir können uns unterwegs bei den amerikanischen Behörden melden. Irgendwie wird es schon klappen.«
Er wanderte mit den beiden, die nach Solingen und Duisburg wollten, den Berg hinab.
Einmal winkte er noch; dann nicht mehr.
»Er hat recht«, sagte Lebenthal.»Ich gehe auch. Heute abend bleibe ich schon in der Stadt. Ich muß mit jemand sprechen, der mein Partner werden will. Wir wollen ein Geschäft aufmachen. Er hat das Kapital. Ich die Erfahrung.«
»Gut, Leo.«
Lebenthal holte ein Paket amerikanischer Zigaretten aus der Tasche und reichte es herum.»Das wird das große Geschäft«, erklärte er.»Amerikanische Zigaretten. So wie nach dem letzten Kriege. Man muß rechtzeitig einsteigen.«
Er betrachtete das bunte Päckchen.»Besser als alles Geld, das sage ich euch.«
Berger lächelte.»Leo«, sagte er.»Du bist in Ordnung.«
Lebenthal blickte ihn mißtrauisch an.»Ich habe nie behauptet, daß ich ein Idealist bin.«
»Sei nicht beleidigt. Ich meine es ohne Hintergedanken. Du hast uns oft genug über Wasser gehalten.«
Lebenthal lächelte geschmeichelt.»Man tut, was man kann. Immer gut, einen praktischen Geschäftsmann zwischen sich zu haben. Wenn ich irgendwas für euch tun kann – wie ist es mit dir, Bucher? Willst du hierbleiben?«
»Nein. Ich warte darauf, daß Ruth etwas kräftiger wird.«
»Gut.«Lebenthal zog eine amerikanische Füllfeder aus der Tasche und schrieb etwas auf.»Hier ist meine Adresse in der Stadt. Im Falle -«
»Woher hast du den Füllfederhalter?«fragte Berger.
»Getauscht. Die Amerikaner sind verrückt nach Andenken aus dem Lager.«
»Was?«
»Sie sammeln. Andenken. Alles. Pistolen, Dolche, Abzeichen, Peitschen, Flaggen – es ist ein gutes Geschäft. Ich habe gründlich vorgesorgt. Mich eingedeckt.«
»Leo«, sagte Berger.»Es ist gut, daß es dich gibt.«Lebenthal nickte ohne Erstaunen.
»Bleibst du vorläufig hier?«»Ja, ich bleibe hier.«
»Dann sehe ich dich noch ab und zu. Ich schlafe in der Stadt, werde aber zum Essen hier heraufkommen.«»Das dachte ich mir,«»Klar. Hast du Zigaretten genug?«
»Nein.«»Hier.«Lebenthal zog zwei ungeöffnete Päckchen aus den Taschen und gab je eines an Berger und Bucher.
»Was hast du noch?«fragte Bucher.
»Konserven.«Lebenthal sah nach seiner Uhr.»Ich muß los -«
Er holte unter seinem Bett einen neuen amerikanischen Regenmantel hervor und zog ihn an. Keiner sagte mehr etwas dazu. Hätte er ein Auto draußen gehabt, hätte es die anderen auch nicht gewundert.»Verliert die Adresse nicht«, sagte er zu Bucher.
»Wäre schade, wenn wir uns nicht wiedersehen würden.«
»Wir werden sie nicht verlieren,«
»Wir gehen zusammen«, sagte Ahasver.»Karel und ich.«Sie standen vor Berger.
»Bleibt noch ein paar Wochen hier«, sagte der.»Ihr seid noch nicht kräftig genug.«
»Wir wollen weg.«»Wißt ihr, wohin?«»Nein.«
»Warum wollt ihr dann fort?«
Ahasver machte eine unbestimmte Gebärde.»Wir waren lange genug hier.«
Er trug einen altmodischen, grauschwarzen Havelock, einen Mantel mit einer Art Kutscherkragen, der bis zum Ellbogen reichte. Lebenthal, der bereits im Geschäft war, hatte ihn für ihn besorgt. Er stammte aus dem Nachlaß eines Gymnasialprofessors, der beim letzten Bombardement getötet worden war.
Karel war in eine Kombination von amerikanischen Uniformstücken gekleidet.
»Karel muß fort«, sagte Ahasver.
Bucher kam hinzu. Er musterte Karels Anzug.»Was ist mit dir los?«»Die Amerikaner haben ihn adoptiert. Das Regiment, das zuerst hier durch» kam. Sie haben einen Jeep geschickt, ihn zu holen.
Ich fahre ein Stück mit.«»Haben sie dich auch adoptiert?«
»Nein. Ich fahre nur das Stück mit.«»Und dann?«
»Dann?«Ahasver blickte zum Tal hinunter. Sein Mantel flatterte im Winde.»Da sind so viele Lager, wo ich Bekannte hatte -«
Berger blickte ihn an. Lebenthal hat ihn richtig angezogen, dachte er. Er sieht, wie ein Pilgrim aus.
Er wird von einem Lager zum anderen pilgern. Von einem Grabe zum anderen. Aber wer hatte als Gefangener schon den Luxus eines Grabes gehabt? Was wollte er dann suchen?
»Weißt du«, sagte Ahasver.»Manchmal trifft man Leute ganz unvermutet irgendwo auf der Straße.«
»Ja, Alter.«
Sie sahen den beiden nach.
»Sonderbar, daß wir alle so auseinandergehen«, sagte Bucher.
»Gehst du auch bald?«
»Ja. Wir sollten uns aber nicht einfach so verlieren.«
»Doch«, sagte Berger.»Doch.«
»Wir sollten uns wiedertreffen. Nach alldem hier. Irgendwann.«
»Nein.«
Bucher blickte auf.»Nein«, wiederholte Berger.»Wir sollen es nicht vergessen. Aber wir sollen auch keinen Kult daraus machen. Sonst bleiben wir immer im Schatten dieser verfluchten Türme.«
Das Kleine Lager war leer. Man hatte es gesäubert und die Bewohner im Arbeitslager und in den SS-Kasernen untergebracht. Man hatte Ströme von Wasser und Seife und desinfizierenden Mitteln gebraucht; aber der Geruch nach Tod und Schmutz und Elend hing immer noch darüber. In die Stacheldrahtzäune waren überall Durchgänge eingeschnitten worden.
»Glaubst du, daß du nicht müde werden wirst?«fragte Bucher Ruth.